Die Entdeckung des Himmels
im Ersten Weltkrieg auf der falschen Seite«, sagte Max, »und mein Vater im Zweiten, und um die Familientradition in Ehren zu halten, werde ich also im Dritten auf der falschen Seite stehen müssen.« Während er sich eine Zigarette anzündete, drehte er kurz den Kopf, um die Waden einer vorbeigehenden Frau zu inspizieren.
»Sehe ich das richtig«, fragte Onno, »daß du über den Tod deiner Mutter sprichst, dann einen zweifelhaften Witz machst und dann einer Frau nachschaust? Was bist du nur für ein Mensch?«
»Wohl jemand, der einer Frau nachschaut, wenn er vom Tod seiner Mutter spricht. Ich sprach übrigens auch vom Tod meines Vaters.«
Onno wollte etwas sagen, tat es aber dann doch nicht. Es war ihm unbegreiflich, wie jemand so kühl über solche Erfahrungen reden konnte. Er versuchte sich vorzustellen: seine eigene Mutter – vergast in einem Vernichtungslager, sein Vater – nach dem Krieg von einem Hinrichtungskommando erschossen – aber die Vorstellung nahm keine Gestalt an. Er wußte nur so viel, daß sein Vater anderthalb Jahre als Geisel in einer Art VIP-Abteilung des Konzentrationslagers Buchenwald gesessen hatte, wo er mit den führenden Köpfen Pläne für die Niederlande nach dem Krieg schmiedete – und das fing an mit der Gründung einer »Außerordentlichen Rechtspflege-Abteilung« und der Wiedereinführung der Todesstrafe für den schlimmsten Abschaum. Auch seine beiden Brüder waren im Widerstand aktiv gewesen. Er sah zu Max und fühlte sich ausgeliefert. Es war ausgeschlossen, jetzt seine Hand auszustrecken, sich zu verabschieden und hineinzugehen.
»Ich bringe dich zurück«, sagte er.
Minutenlang gingen sie schweigend nebeneinander durch die Winternacht, umgeben von der kalten Gewalt, die Max hervorgerufen hatte, unvermutet wie ein Fausthieb. Er hatte seine paradoxe Geschichte anders erzählt als bei den wenigen Malen zuvor. Wenn man unterschiedlichen Leuten dasselbe erzählte, dann erzählte man es doch auf so unterschiedliche Weise, wie sich diese Leute voneinander unterscheiden, aber jetzt schien es ihm, als ob er die Geschichte, seine Geschichte, zum ersten Mal sich selbst erzählt hätte. Das hatte ihn im gleichen Maße erleichtert, wie es Onno belastet hatte. Um etwas zu sagen, zeigte er auf das Brot, das hier und da am Fuß der Bäume hingestreut war.
»Es gibt noch gute Seelen auf der Welt.«
Onno hatte darauf gewartet, daß Max das Schweigen brechen würde, aber da er sich nicht dazu berechtigt fühlte, nach Einzelheiten seiner Geschichte zu fragen, sagte er: »Soll ich dir mal was sagen? Dein Vater ist unter der Verantwortlichkeit meines Vaters naturalisiert worden. Das war während seiner Legislaturperiode, in den zwanziger Jahren.«
Mit einem Lachen sah Max Onno an.
»Ein sehr schönes Band, das uns da verbindet. Lebt er noch?«
» Natürlich lebt mein Vater noch. Er wird nie nicht mehr leben.«
»Dann erzähl ihm das bei Gelegenheit. Es war der größte Fehler seiner gesamten Laufb ahn.«
Onno wollte sagen, daß folglich auch sein eigener Vater die Kugel verdient habe, aber er nahm sich zusammen; er war sich nicht ganz sicher, ob auch er so flapsig damit umgehen durfte, weil er nicht wußte, wie dick die Eisschicht bei diesem Mann eigentlich war. Vielleicht lag darunter etwas ganz anderes.
»Wenn deine Mutter Jüdin war«, sagte er, »dann bist du selbst also auch Jude.« Sofort war es ihm unangenehm, das Wort »Jude« aus seinem eigenen Mund zu hören. Vielleicht durften es nur Juden gebrauchen, nach allem, was geschehen war, vielleicht ruhte ein Tabu darauf – aber andererseits: sollte er sich jetzt noch immer den Mund verbieten lassen von den Faschisten?
»Nach Meinung der Rabbiner schon. Nach Meinung der Nazis war ich Gott sei Dank nur Halbjude, sonst hätte auch ich es nicht überlebt. Man fragt sich übrigens: welche Hälfte?
Die obere? Die untere? Links? Rechts?«
»Die Nazis waren Biologen. Für sie warst du so etwas wie ein verdünnter Jude; bei dir war fünfzig Prozent arisches Wasser in den jüdischen Wein gemischt.«
»Heißt das nicht ›verschneiden‹?« fragte Max mit einem Lachen. »Weißt du übrigens, warum das so ist, daß man nach Meinung der Orthodoxen nur Jude ist mit einer jüdischen Mutter, und kein Jude, wenn man einen jüdischen Vater hat?«
»Erzähl.«
»Das hat auch etwas mit der Biologie zu tun. Weil ein Mann sich nie zu hundert Prozent sicher sein kann, daß er der wirkliche Vater des Kindes ist. Eine Mutter kann sich eventuell
Weitere Kostenlose Bücher