Die Entdeckung des Himmels
Grachten waren gefroren. In den verschatteten Tiefen waren noch Schlittschuhläufer unterwegs; schweigende Gestalten glitten mit den Händen auf dem Rücken vorbei und bremsten kratzend vor den Brücken, unter denen dem Eis nicht zu trauen war. Während Max und Onno durch die Stadt gingen, am Rijksmuseum vorbei und über Brükken mit bizarren Dekorationen aus Sandstein und Gußeisen von Meeresungeheuern, die über die Dünen gekrochen waren, erzählte Max, wie es seine Eltern in den Wirren des Ersten Weltkriegs nach Amsterdam verschlagen hatte, wie sie zueinander fanden, wie sie sich voneinander trennten und seine Mutter dann in Amsterdam-Süd lebte, hinter dem Concertgebouw. Sein Vater wollte sie beide nie wiedersehen, und als der Zweite Weltkrieg kam, mußte etwas in ihn gefahren sein. Er kam wieder in Kontakt mit den alten österreichischen Freunden aus dem Ersten Weltkrieg, die inzwischen, nach dem Anschluß , großdeutsche Generale und SS-Obersturmbannführer geworden waren. Er, Max, wußte das alles eigentlich nur vom Hörensagen; er hatte sich nie darum gekümmert. Vielleicht mußte sein Vater einen Beweis für seine deutschfreundliche Gesinnung erbringen. Er war noch immer mit einer Jüdin verheiratet, hatte »Rassenschande« begangen, sogar ein Kind mit ihr gezeugt: vielleicht mußte er das erst klären. Jedenfalls spielte er, was die Handelsbeziehungen mit der Besatzungsmacht anging, eine führende Rolle, sein Büro entwickelte sich zu einer halboffiziellen Regierungsstelle, die auf Raub, vor allem jüdischer Güter, spezialisiert war, und über einen Rechtsanwalt ließ er Eva Delius-Weiß wissen, daß er die Scheidung wünschte. Sie ging nicht darauf ein: ihre Ehe mit einem Arier schützte sie vor Deportation, vielleicht mehr noch als das Kind, das sie von ihm hatte. Das Drängen auf eine Scheidung lief im Grunde auf einen verkappten Mordanschlag hinaus. Wie sich nach dem Krieg herausstellte, schaltete Delius in dieser Sache schließlich seine früheren Kameraden ein.
An einem Morgen im Jahre 1942, erzählte Max, er wurde in diesem Jahr neun, holte ihn der Hausmeister aus der Klasse; im Zimmer des Direktors stand ein Militärpolizist mit einer hohen Mütze, Stiefeln und einer weißen Tresse über der Schulter. Max wurde mitgeteilt, daß seine Mutter plötzlich mit unbekanntem Ziel abgereist sei, er solle mitkommen und seine Sachen zusammensuchen. Als er zu Hause ankam, stand vor dem Haus bereits ein Umzugslaster, der in riesigen Buchstaben die Aufschrift Puls trug, daran erinnere er sich noch genau; einige Männer trugen das Klavier hinaus, in der Wohnung gingen Männer mit Listen umher, um all das zu registrieren, was sie nicht in die eigene Tasche steckten. Deutsche waren nirgends zu sehen, nur zwei Beamte der Gemeindepolizei. Alles war durchwühlt worden, im Schlafzimmer seiner Mutter waren alle Schubläden und Schränke offen, ihre Kleider lagen auf einem Haufen am Boden. Er bekam fünf Minuten, um seine Besitztümer zu sammeln, danach wurde er in ein römisch-katholisches Kolleg gebracht. In seiner Unschuld sagte er, er wolle zu seinem Vater: er wußte noch nicht, daß er Gift war für ihn. Die Großeltern, die einzigen Verwandten, die er noch hatte in den Niederlanden, waren irgendwo untergetaucht, er wußte nicht, wo – und er wußte auch nicht, daß sein Vater inzwischen auch deren Adresse verraten hatte und sie sich wie seine Mutter via Durchgangslager Westerbork auf dem Transport nach Auschwitz befanden, von wo keiner von ihnen zurückkehrte. Der Kollaborateur war ein Kriegsverbrecher geworden. Alles, was den Namen Weiß trug, mußte ausgelöscht werden – und Gott weiß, wer sonst noch. Max erzählte, daß die Patres ihn nach einigen Wochen bei einem kinderlosen, schon etwas älteren katholischen Ehepaar unterbrachten, das nicht einmal von ihm verlangte, vor dem Essen ein Kreuz zu machen. Manchmal radelte er an dem Haus, in dem er gewohnt hatte, vorbei: die Eingangstür und die Fenster waren mit Backsteinen zugemauert. Von seinem Vater hörte er erst wieder nach dem Krieg, als er vor Gericht stand – und danach noch einmal: ein kurzer Zeitungsbericht meldete seine Hinrichtung.
»Gütiger Himmel!« rief Onno. »Du bist ein Sohn von diesem Delius? Da muß dir wohl viel nachgesehen werden, glaube ich.«
Sie standen wieder in der Kerkstraat. Kleine, schmale Häuser mit Holztreppen zu den Türen der Beletage und steinerne Stufen hinunter zu den Türen der Souterrains.
»Mein Großvater stand
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