Die Entdeckung des Himmels
sprang Onno auf und ließ dieses Schicksal nun dem Journalisten zuteil werden, wobei Max von seinem Stuhl purzelte. Während er den Mann mit der Linken auf den Tisch gedrückt hielt, hob er die Rechte hoch in die Luft, wie zu einem tödlichen Karateschlag in den Nacken, sah durch das still gewordene Café und sagte: »Er hat sich an meinem Freund vergriffen, er muß sterben!«
Max wußte nichts von Gilgamesch und Enkidu, obwohl in derselben Zeit und an demselben Ort auch die Astronomie entstanden war; aber er wußte etwas von einer anderen Sorte Männer, Loeb und Leopold zum Beispiel. Während sie an diesem Tag – oder an einem anderen – in einem Café mit roten Aktivisten debattiert hatten und nach Mitternacht wieder durch die Stadt gingen, über den Platz mit den verfallenen Synagogen, erzählte er von den zwei amerikanischen Jurastudenten, Busenfreunden, achtzehn und neunzehn Jahre alt, Sprößlinge aus vermögenden Familien Chicagos. Sie lasen Nietzsche, Thus spoke Zarathustra , Beyond Good and Evil , und kamen zu dem Schluß, daß sie Übermenschen waren, allen menschlichen Gesetzen enthoben. Um das zu sanktionieren, beschlossen sie 1924, ein perfektes Verbrechen zu verüben, ohne Motiv – außer dem, daß sie eben Übermenschen waren.
Sie ermordeten einen vierzehnjährigen Jungen, machten sein Gesicht mit Salzsäure unkenntlich, verbargen seine Leiche im Abflußrohr und dinierten anschließend in einem noblen Restaurant. Aber Leopold, ein Vogelkenner, hatte seine Brille verloren, und alles kam ans Licht. Jeder bekam lebenslänglich plus neunundneunzig Jahre. Loeb, der Charmeur der beiden, wurde später bei einem Kampf im Gefängnis getötet; Leopold, der Kopf, kam vor etwa zehn Jahren frei und war jetzt zweiundsechzig, wenn er noch lebte.
Onno sagte nichts. Er verstand sofort, wovon Max eigentlich sprach. Nach dem Abend ihrer ersten Begegnung hatten sie nicht mehr von seinem Vater gesprochen; sie würden schon wieder darauf zurückkommen, aber Onno fand, daß es nicht seine Sache war, diesen Augenblick zu bestimmen. Max begriff sofort, was Onno begriffen hatte, aber auch er berührte das Thema nicht. Statt dessen sagte er:
»Wen sollen wir denn mal ermorden, Onno?«
Er erhielt keine Antwort. Onno atmete die Nachtluft tief ein und sagte:
»Ich rieche eine Ahnung von Frühling.«
Knirschend und Funken sprühend näherte sich über den verlassenen Platz in den Trambahnschienen ein Schleifwagen. Als er vorbeifuhr, riefen sie »Bravo!« und applaudierten, woraufh in der Wagen hielt und einer der Arbeiter sie einlud, mitzufahren. Im eisernen Inneren, das voll war mit schwerem und schmutzigem Werkzeug, saß noch ein weiterer Fahrgast: ein Mädchen mit verschmiertem Makeup, abgefüllt mit Schnaps oder etwas anderem, die auf einer Kiste saß und unverständliche Worte vor sich hin redete. Als Onno bemerkte, wie Max sie ansah, sagte er streng:
»Und du läßt die Finger davon, du Widerling!«
Mit einem Gefühl, als ob er ein freiwilliges Opfer brächte, schien dies auch Max ratsam zu sein, zumindest in diesem Fall.
»Hü, Kutscher!« rief Onno zum Fahrer.
Schleifend und Funken sprühend setzte sich der Wagen in Bewegung. Onno stellte sich breitbeinig hin, stemmte die Hände in die Seiten, hob das Kinn, und mit einem heldenhaften Blick wie dem von Bismarck rief er aus: »Ich bin der Gott der Stadt!«
So sah Max ihn am liebsten, solche Augenblicke würde er nie vergessen. Für die Arbeiter des Beförderungsunternehmens war er mit Sicherheit ein komischer Kauz, einer von denen, die sich in der Nacht auf der Straße herumtrieben, aber Max begriff, daß er nicht einfach nur daherredete, sondern tatsächlich einen Gott personifizierte, mit Feuer unter den Füßen, einem phytischen Orakel auf einer Kiste und umgeben von drei oder vier Synagogen – und Onno wußte, daß Max das begriff, als einziger.
Und als sich nachts um vier plötzlich herausstellte – im Café Het Sterretje, umgeben von zweifelhaften Taxifahrern, Huren, Zuhältern, Dieben und Mördern –, daß Onno Kafk as Brief an den Vater nie gelesen hatte, gingen sie zu Max, um dieses Versäumnis nachzuholen.
Als Onno zum ersten Mal die drei Treppen erklommen hatte und Max’ Appartement sah, sagte er, noch in der Türöffnung: »Jetzt bin ich mir ganz sicher, daß du wahnsinnig bist.«
»In Ordnung. Laß uns jetzt ein für allemal die Rollen verteilen: ich bin verrückt und du bist dumm.«
»Abgemacht!«
Onno hatte auf den ersten Blick gesehen,
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