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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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als in den Niederlanden? In der Schweiz vielleicht – aber die war korrupter und, was schlimmer war, langweiliger. Wenn er die Veränderungen, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre von unten her bewirkt worden waren, hätte halten und stabilisieren können, wäre er’s zufrieden gewesen, aber jetzt, an der Schwelle der siebziger Jahre, sah er diese Hoffnung in einem Morast endloser, verbitterter Versammlungen versinken, die eher den Vorgeschmack einer gnadenlosen, totalitären Demokratie abgaben. Keiner unternahm mehr etwas, weil jeder nur noch davon redete, wie etwas unternommen werden müßte. Als er in einem Interview einmal über die »selbstzerstörerische Reflexion« gesprochen hatte, durch die die Studenten Gehirnerweichung und Rückenmarkschwund bekommen hätten, wurde seine Eingangstür mit roter Farbe beschmiert, und er bekam mitten in der Nacht einen Drohanruf: »Dich kriegen wir eines Tages auch noch, Arschloch!« Aber ehe er hatte sagen können: »Bist du das, Bork?«, wurde am anderen Ende aufgelegt.
    Seit dem Unfall lebte er abstinent. Nicht, weil er sich dazu zwang, sondern weil es ihm einfach nicht einfiel, mit einer Frau anzubandeln. Besondere Mühe hätte ihn das nicht gekostet: daß die Macht erotisierend wirkte, hatte er sehr bald entdeckt; doch wollte es sich jemand wirklich und endgültig mit ihm verscherzen, dann brauchte er ihn nur zu fragen, warum er sich nicht scheiden ließ, was in juristischer Hinsicht in diesem Fall eine reine Formalität sei. Daß eine Putzfrau der Gemeinde jeden Morgen seine Wohnung saubermachte, das Bett machte und sich um seine Wäsche kümmerte, hatte damit natürlich auch etwas zu tun. Seine Sekretärin, Frau Siliakus, ohne die nichts laufen würde, weder seine Arbeit noch sein Leben, ergänzte genau das, was ihm fehlte. »Zusammen sind wir ein Mensch«, sagte Onno öfter. Aber Frau Siliakus war schon über fünfzig und teilte seit zwanzig Jahren eine Wohnung mit einer Dame ihres Alters. »Wenn Sie doch nur nicht so empörend widernatürlich veranlagt wären«, bekannte er ihr in einem vertraulichen Augenblick, »sondern genauso stinknormal wie ich, dann wüßte ich schon, was zu tun wäre.«
    Bis Max ihn an einem Sonntagabend im Juli auf seiner neuen Geheimnummer anrief und ihn fragte, ob er denn wisse, daß heute nacht der erste Mensch den Fuß auf den Mond setzen werde.
    »Du schaust dir das doch an? Es wird alles im Fernsehen übertragen.«
    »Um welche Zeit?«
    »Gegen vier Uhr.«
    »Das hatte ich ehrlich gesagt nicht vor. Der Mond! Du bist wohl verrückt geworden. In der Kommunalpolitik ist er absolut unwichtig. Morgen vormittag um halb zehn muß ich vor dem Rector Magnificus der Universität Leningrad eine Ansprache halten, auf russisch, und daran arbeite ich jetzt.«
    »Du mußt dir das unbedingt anschauen. Das Phantastische ist nicht, daß es passiert, denn das haben bereits Jules Verne prophezeit und Cyrano de Bergerac und Kepler –«
    »Und was hältst du von Plutarch? Und von Lucianus? Und von Cicero? Somnium Scipionis! Davon hast du bestimmt noch nie etwas gehört. Und wir sind schon in der Zeit vor Christus! Bilde dir bloß nichts ein.«
    »Laß mich doch ausreden! Was ich sagen wollte – eines ist noch nie jemandem eingefallen: daß die Fernsehzuschauer alle im selben Moment und ohne sich aus dem Lehnsessel zu erheben Zeugen sind, wie jemand den Mond betritt – obwohl dieser Mond in diesem Augenblick gar nicht für sie sichtbar am Himmel steht. Das ist wirklich unglaublich. Wenn das jemand so vorhergesagt hätte, wäre er für verrückt erklärt worden.«
    »Bist du immer noch zwölf? Wenn ich dich recht verstehe, muß ich mir also etwas anschauen, das eigentlich gar nicht zu sehen ist: eine Idee. Für dich ist eben alles immer etwas anderes. Du siehst dir ja sogar die Vorahnung vom Big Bang an, da in der Heide. Aber gut, ich werde, wie so oft schon, auf dich hören, obwohl ich nicht gerade das Gefühl habe, daß mich das weiterbringt. Erzähl, wie geht es Quinten Quist? Hat er schon etwas gesagt?«
    »Keine Ahnung, ich kann es auf jeden Fall nicht verstehen.
    Aber du müßtest doch eigentlich wissen, in welcher Sprache er brabbelt. Vielleicht ist es dieselbe, nach der du früher gesucht hast.«
    »Ja, reiß nur die alten Wunden wieder auf, du Sadist. Vielleicht sollte ich mich damit abfinden, daß ich der Vater eines Analphabeten bin. Das wird man immer wieder beobachten: Große Männer haben immer blöde Söhne, der Sohn Goethes war

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