Die Entdeckung des Himmels
Stimme eines alten Mönchs, der fragte: ›Wer ist da?‹ Und dann sagte der Haushofmeister: ›Seine kaiserliche und königliche apostolische Majestät, Kaiser von Österreich, König von Ungarn‹ und noch fünfh undertsechsundachtzig solcher Titel. Darauf blieb es drinnen still, und der Haushofmeister schlug wieder dreimal an die Tür und leierte seine Liste herunter. Und nachdem er zum dritten Mal an die Tür geschlagen und der Mönch wieder gefragt hatte: ›Wer ist da?‹, antwortete der Haushofmeister: ›Ein armer Sünder.‹ Da erst öffneten sich langsam die Türen.«
»Und was willst du mir damit sagen?«
»Muß ich wirklich noch deutlicher werden? Ich habe dir gerade mit hängenden Pfötchen erzählt, daß ich genug davon habe, draußen zu spielen – falls dir das noch etwas sagt.«
Nachdem Quinten die Zimmer der Wohnung erkundet hatte, dehnte er seine Welt allmählich auf das gesamte Schloß aus, was zur Folge hatte, daß er jeden Tag mindestens einmal verschwunden war. Aus dem auffallend hübschen Baby war ein Kleinkind gekrabbelt, das jeden mit seiner Schönheit entzückte. Selma Kern sagte immer wieder zu Sophia, ihr Mann sei süchtig danach, Kuku zu sehen. »Kuku« wurde Quinten genannt, seit Herr Spier ihn konsequent mit »Q. Q.« anredete – um ihm ebenso konsequent die Tür zu weisen, da er es nicht wünschte, sich mit jemandem zu unterhalten, der nichts erwiderte: »Du lernst am besten erst mal Niederländisch, Q. Q.«
Aber bei den Kerns, auf dem gleichen Stockwerk gegenüber, war er immer willkommen; wenn der Künstler nicht gerade in seinem Außenatelier arbeitete, konnte er die Augen nicht von dem Kind lassen. Auch Martha, seine zehnjährige Tochter, ein blondes, spindeldürres Mädchen, war ganz vernarrt in Quinten und hatte sich damit abgefunden, daß er nicht sprach; sie saß mit gekreuzten Beinen bei ihm auf dem Boden und gab ihm einen Tannenzapfen oder eine Muschel oder zeigte ihm die weißen Tauben. Als sich einmal eine Taube auf seinen Kopf setzte und dort leise gurrend sitzen blieb, breitete Kern die Arme aus, als wollte er selbst fliegen, und sah Quinten, der sich nun ebenfalls nicht bewegte und seinerseits den Blick nicht von Selma lösen konnte, in dieser Haltung unentwegt an.
»Das ist doch nicht mehr von dieser Welt!« rief er aus.
Eine große Mappe enthielt bereits Dutzende von Zeichnungen von Quinten, auf denen die Augen immer größer wurden und durch das Methylenpulver, das mit der Spitze des Mittelfingers verrieben wurde, ein kräftiges Blau bekommen hatten; auf einigen Blättern war er auf einem voluminösen Kissen thronend mit einem Zepter und einem Reichsapfel in den Händen dargestellt oder als Papst mit einer Tiara auf dem Kopf. Selma zufolge hatte Kerns eigene Tochter ihren Vater nie derartig inspiriert. Kern fragte Max, ob er einverstanden sei, wenn er die Serie eines Tages ausstelle, worauf Max ihm in Aussicht stellte, Onno dazu zu bringen, die Ausstellung zu eröffnen – in diesem Falle jedoch müsse er damit rechnen, daß möglicherweise der Vater alle Ehre auf sich ziehe. Mit Sicherheit werde sich Onno eine Volte ausdenken, in der dem Künstler nichts anderes blieb als die dumme Verdoppelung der Realität – oder, mit anderen Worten: der Beweis seiner totalen Überflüssigkeit.
»Das würde er dann vermutlich das Papageienprinzip nennen oder so ähnlich«, sagte Max, wobei ihm wieder einmal bewußt wurde, wie sehr Onno Teil seines eigenen Wesens geworden war.
Oben, bei den Proctors, zwischen den gruseligen schwarzen Regenschirmen, sah Quinten der elektrischen Eisenbahn zu – wie Arendje beim Einfahren in die Kurve den Regler des Transformators mit einem Ruck nach rechts drehte, so daß der Zug aus den Schienen flog, und sich vor Lachen schüttelte, auf den Rücken rollen ließ und in dämonischer Freude mit den Beinen zappelte. Quinten sah sich das mit demselben Gesichtsausdruck an wie vorher den Zug. Eines Tages erkundete er auch den hinteren Teil des Dachbodens. Ein Zimmer war dort immer abgeschlossen, und immer war das die erste Tür, an deren Klinke er rüttelte. Weil das ergebnislos blieb, kletterte er in den muffigen, vollgestellten Lagerräumen des Barons herum, über aufgerollte Teppiche und mit Schnüren zusammengebundene Bücher, zwischen umgedrehten Stühlen und Tischen und heruntergefallenen Kronleuchtern, Schränken, Kommoden und Kleiderstapeln, auf denen er manchmal einschlief und wo er schließlich von einer aufatmenden Sophia oder
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