Die Entdeckung des Himmels
besten Studenten« nannte, hatte Quinten schon bald seinen Weg zur italienischen Renaissance gefunden. Dort wurde er am meisten von den Kirchen von Palladio gefesselt, die auch wieder diese Kombination aus wundervollen klassischen Giebeln und sich selbst genügenden Ziegelmauern aufwiesen. Themaat lobte ihn für seinen guten, wenn auch nicht sehr progressiven Geschmack, aber dieses Kompliment entging ihm; mit Geschmack hatte das alles nichts zu tun. Im Barock hatte er angesichts der Fülle der Ornamentik ein vages Gefühl des Wiedererkennens, und neoklassizistische Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert faszinierten ihn, weil sie ihn an die von Palladio aus dem sechzehnten erinnerten. In jedem Fall waren es lauter Außenansichten, aber die interessierten ihn nun gerade nicht, ihn fesselte das Innere.
Mit dem Risiko, etwas von seinem Geheimnis preiszugeben, beschloß er eines Nachmittags, die entscheidende Frage zu stellen:
»Gibt es auch ein Gebäude, das zwar eine Innenseite hat, aber keine Außenseite?«
Themaat starrte ihn einige Sekunden an, ehe er antworten konnte.
»Wie kommst du auf so etwas?«
»Nur so.«
»Das ist absolut unmöglich, genauso unmöglich wie ein Gebäude mit einer Außenseite ohne Innenseite.«
»Das geht schon.«
»Wie denn?«
»Wenn es von innen nicht hohl ist, sondern ganz aus Stein.
Wie ein Bild.«
»Das hat etwas für sich«, sagte Themaat mit einem Lachen.
»Und eine Innenseite ohne Außenseite geht vielleicht auch.«
Während er in einem Bücherregal suchte, erzählte er, er sei mit der Vorstellung aufgewachsen sei, die Renaissance sei altmodisch, und, ehrlich gesagt, finde er das immer noch, aber wenn er Quinten jetzt so höre, habe er das Gefühl, daß vielleicht so etwas wie eine »Re-Renaissance« im Kommen sei.
Dann zeigte er ihm Fotos von Palladios Teatro Olimpico in Vicenza, seines architektonischen Schwanengesangs. Von außen war es eine unansehnliche Backsteinkiste, aber innen zeigte sich eine unbeschreibliche Pracht. Die Rückwand und die Seitenwände der Bühne wurden von mit Marmor ausgelegten Giebeln gebildet und waren über und über verziert mit korinthischen Säulen, mit Bildern in aufwendigen Fenstersimsen mit dreieckigen und segmentförmigen Bekrönungen und Stand-Bildern auf Sockeln, mit Ornamenten, Voluten, Reliefs und Inschriften, und hinter den ansteigenden Bänken des halbrunden Saals wiederum Säulen und Bilder – aber alles aus Holz und Gips. Das sei nun tatsächlich eine Außenseite ohne Innenseite, sagte Themaat, denn es sei Dekor, und zugleich sei es eine Innenseite ohne Außenseite. Das war Quinten klar, aber es war nur teilweise eine Abbildung der Burg.
»Übrigens, erinnerst du dich an das Buch von Bibiena, das du dir früher so gerne angeschaut hast?«
Nein, Quinten erinnerte sich nicht mehr, aber als er es wiedersah, erwachte ein vages Bild in ihm. Themaat erklärte ihm, daß auch diese Dekorzeichnungen die Innenseite von Gebäuden zeigten, die keine Außenseite hätten. Offenbar zufrieden über seine Erläuterungen betrachtete der Professor noch eine Zeitlang die perspektivischen Zeichnungen. Dann sagte er unvermittelt:
»Warte! Da habe ich vielleicht noch etwas Schöneres für dich.« Aus dem Regal, in dem alles tadellos alphabetisch geordnet war, nahm er beim P – etwas weiter als Palladio, Pantheon und Parthenon – ein großes Buch mit Reproduktionen von Piranesis Carceri.
Als er es aufschlug, versetzte es Quinten einen Schock. Fast!
Da war er fast, sein Traum! Derselbe, sich endlos nach allen Seiten hin fortsetzende Raum voller Treppen, Brücken, Bögen, Galerien, die tiefen Schatten ohne Lichtquellen, alles mit derselben, reglosen Luft erfüllt. Aber in diesen radierten Kerkervisionen erschien alles kühl und muffig, während es in der Burg warm war und süß. Bis auf ihn selbst war die Burg leer gewesen, aber hier waren überall menschliche Figuren zu sehen; zudem fehlten die Säulen und die massigen, verzierten Giebel. Erst zusammen mit den Dekors von Palladio und Bibiena hätte es wirklich so ausgesehen.
»Jetzt habe ich so langsam eine Ahnung, was du suchst«, sagte Themaat. »Aber da müssen wir uns eine ganz andere Art von Büchern anschauen als bisher. Du brauchst keine existierenden Gebäude, sondern Architekturphantasien. Weißt du übrigens, daß Piranesi auch der Mann ist, der dein Lieblingsbild gemacht hat?«
»Mein Lieblingsbild?«
Themaat zeigte auf die eingerahmte Radierung, die auf dem Boden an das
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