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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Rutgers sinnloses Tun auch eingreifen konnte, und erst recht hatte niemand den Mut gehabt, es dann auch zu tun.
    »Wie bist du denn darauf gekommen?« fragte Max ihn abends bewundernd. »Wie hast du dich getraut?«
    »Na, nur so –«, sagte Quinten.
    Max sah zu Sophia und sagte:
    »Der Junge hat einen absolutistischen Wesenszug.«

    Der Architektur-Traum, den er nach seinem ersten Besuch bei seiner Mutter gehabt hatte, kam alle paar Monate wieder, ungefähr mit derselben Häufigkeit wie seine Besuche in Emmen.
    Aber er kam nicht mehr am selben Abend und endete auch nicht mehr in einem Alptraum, obwohl die gepanzerte Tür mit dem Vorhängeschloß an der »Mitte der Welt« doch noch dasein mußte. Wenn er wieder durch das grenzenlose Bauwerk, durch das Labyrinth aus Zimmern, vorbei an den Innengiebeln mit den Ornamenten und über die Galerien geirrt war, blieb er nach dem Erwachen noch einen Moment liegen, ließ wie jeden Morgen die oberen Gelenke seiner Daumen knacken und versuchte, die Erinnerung festzuhalten – aber jedesmal verwischten sich die Bilder nach einigen Minuten, wie im Kino, wenn der Schluß des Filmes unsichtbar wurde, weil man zu früh das Licht angemacht hatte. Nach und nach begann er sich zu fragen, wo sich dieses Gebäude eigentlich befand. Es mußte doch irgendwo stehen, denn er sah es jedesmal wieder ganz deutlich. Aber da er dort nie jemandem begegnete, war er sicher der einzige, der wußte, daß es überhaupt existierte, und das war schon sehr viel, denn es war geheim, und er durfte mit niemandem darüber sprechen: weder mit Max noch mit Oma, nicht einmal mit seinem Vater, den er so selten sah. Es konnte sich kaum irgendwo auf der Welt befinden, weil sie ja nicht ganz vollgebaut war. Vielleicht lag es in einer anderen Welt? Er hatte ihm einen Namen gegeben: die Burg.
    Es kam vor, daß er wochenlang nicht an die Burg dachte.
    Wenn sie sich wieder einmal gezeigt hatte, ging er manchmal zu Herrn Themaat, um zu sehen, ob er in einem seiner dicken Bücher eine Abbildung von etwas Ähnlichem fand. Der Professor war inzwischen pensioniert, wohnte jetzt ganz auf Groot Rechteren, so daß sich seine Bibliothek noch erweitert hatte. Quinten war immer willkommen. Vereinzelt kam es vor, daß Herr Themaat ohne ein Buch auf dem Schoß in seinem Schaukelstuhl saß, das Gesicht plötzlich bis zur Unkenntlichkeit verändert, als sei es aus Stein, und dieser Stein sah ihn an mit zwei Augen, aus denen eine so abgrundtiefe Verzweiflung sprach, daß er sofort wieder ging. Es schien, als ob Herr Themaat in diesem Zustand nicht einmal mehr wußte, wer er war. Einige Tage getraute sich Quinten dann nicht, ihn zu besuchen, aber wenn er dann wiederkam, war keine Spur von dem Stein mehr zu erkennen.
    »Was suchst du nur, Kuku?«
    »Ach, nichts Besonderes.«
    »Ich glaube dir kein Wort. Du schaust dir nicht nur einfach Bilder an.«
    Quinten sah ihn an. Er durfte das Geheimnis natürlich nicht verraten, denn dann würde der Traum vielleicht nicht wiederkehren. Er fragte:
    »Was ist das Gebäude, Herr Themaat?«
    Themaat stieß einen tiefen Seufzer aus.
    »Hätten mir meine Studenten doch einmal so eine Frage gestellt. Was ist das Gebäude?« wiederholte er, während er seine Hände im Nacken verschränkte, sich in seinem Schaukelstuhl zurücklehnte und zur Stuckdecke sah. »Was ist das Gebäude –.« Während er noch überlegte, kam seine Frau herein, und er rief ihr zu: »Kuku hat mir soeben die Frage gestellt.«
    »Und die wäre?«
    »Was ist das Gebäude?«
    »Vielleicht dieses Schloß«, sagte Elsbeth.
    »Ja«, lachte Themaat, »Frauen denken immer etwas weniger abwegig, und vielleicht haben sie recht damit. Warte mal, ich weiß es vielleicht!« sagte er. »Das Gebäude gibt es natürlich nicht, aber ich denke, daß das Pantheon guter Zweiter ist.«
    Kurz darauf saßen sie nebeneinander an dem großen runden Tisch und sahen sich die Fotos und Architekturzeichnungen des Pantheons in Rom an: des einzigen römischen Tempels, der »allen Göttern« gewidmet und vollständig erhalten war. Quinten hatte sofort gesehen, daß es keinerlei Ähnlichkeit mit der Burg hatte. Es war kein Labyrinth, sondern im Gegenteil sehr einfach und übersichtlich, mit einem Portikus wie eine griechische Tempelfront, wie Herr Themaat sich ausdrückte, mit Säulen und zwei zusammengeschobenen, dreieckigen Tympana, dahinter ein schweres, rundes Gebilde, das innen aus einem einzigen riesigen Rondell ohne Fenster bestand und in der Mitte der Kuppel

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