Die Entdeckung des Himmels
eine große runde Öffnung hatte, durch die das Licht hereinfiel, ähnlich der Fontanelle im Schädel eines Neugeborenen. Auf einer Schnittzeichnung demonstrierte Herr Themaat mit einem Zirkel, daß man eine vollkommene, auf dem Boden ruhende Kugel erhielt, wenn man die Linie der Kuppel weiter nach unten zog. Seiner Meinung nach konnte man den Tempel auch als eine Abbildung der Welt sehen.
Das hieß also, überlegte Quinten, von dieser Welt, und das war es offensichtlich nicht, wovon er träumte. Und dennoch gab es einen Zusammenhang mit der Burg, vielleicht durch diesen Gegensatz zwischen der mit Ornamenten versehenen Tempelfront auf der Vorderseite und der geschlossenen Rückseite. Auf jeden Fall faszinierte ihn der Bau mit seinen eingemeißelten Buchstaben auf dem Architrav, die mit einigen Abkürzungen meldeten, daß AGRIPPA der Bauherr sei. Das habe der Kaiser Hadrian nach dem vollständigen Wiederaufbau einmeißeln lassen, erzählte Themaat, und bei der Nennung des Namens ›Hadrian‹ stockte er plötzlich und sah Quinten an: das Blaublau seiner Augen zwischen den dunklen Wimpern, das glatte schwarze Haar um seine mondblasse Haut. Themaat machte eine Geste in seine Richtung und sagte zu Elsbeth:
»Antinous.«
Sie lächelte, musterte ihn kurz und nickte. Quinten wußte nicht, was gemeint war, aber es war ihm auch egal.
Als er eines Tages bei Herrn Spier, nur um etwas zu sagen, von den Buchstaben des Pantheons anfing, entbrannte dieser sofort in Begeisterung:
»Das ist die Quadrata, Q. Q. der schönste Versalbuchstabe aller Zeiten! Wie bist du darauf gekommen?« Und er erzählte, daß diese Schrift auch »Lapidärschrift « genannt werde, vom lateinischen Wort lapis , das ›Stein‹ bedeute. »Diese Schrift bildet das vollkommene Gleichgewicht von Körper und Seele.«
»Wie geht denn das? Ein Buchstabe ist doch kein Mensch?«
»Und ob er das ist!«
»Und wie können Buchstaben eine Seele haben?«
»Sie sprechen doch zu dir?«
»Das stimmt«, nickte Quinten ernst.
»Wie jeder Mensch hat auch ein Buchstabe eine Seele und einen Körper. Seine Seele ist das, was er sagt, und sein Körper ist das, woraus er gemacht ist: aus Tinte oder aus Stein.«
Quinten dachte an seine Mutter. War sie also einfach nur ein Paar Tintenkleckse? Oder ein unbeschriebener Stein?
»Ein Buchstabe braucht gar nicht aus etwas gemacht zu sein«, sagte er.
»Ach nein? Ich träume manchmal auch von reinen Buchstaben, die durch die Luft schweben, aber das ist unmöglich, genau wie ein Körper ohne Seele.«
»Und was ist mit den Buchstaben im Pantheon? Die sind nicht aus Stein, sondern eben nicht aus Stein. Da ist der Stein gerade weggehackt: Das habe ich Theo Kern auch einmal machen sehen. Die sind aus nichts. Es gibt doch manchmal auch einen Körper ohne Seele?«
Er ging jetzt in die sechste Klasse, und der Lehrer meinte, daß er sich langsam wirklich etwas mehr Zeit für seine Haus aufgaben nehmen sollte. Seine Leistungen waren nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut; was ihn interessierte, beherrschte er sofort, selbst wenn es schwierig war; alles andere, sogar leichte Dinge, kosteten ihn Mühe. Aber statt Geographie zu lernen oder die Mathematikaufgaben zu machen, suchte er lieber bei Herrn Themaat seinen Weg zur Burg.
Manchmal zeigte ihm der Professor Beispiele für moderne Architektur aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, von Frank Lloyd Wright oder Le Corbusier oder Mies van der Rohe, den er von allen am meisten zu mögen schien.
Manches gefiel Quinten, aber das war auch alles; da ihn die kühle Sachlichkeit dieser Streichholzschachteln in keiner Hinsicht an die Burg erinnerten, interessierten sie ihn nicht weiter. Am nächsten kamen ihr noch die klassischen Bauwerke mit dem römischen Pantheon in ihrem Zentrum, das dem puren Licht der griechischen Tempel mit seinem runden, blinden Zentralbau etwas Düsteres und Drohendes hinzufügte.
Das Athener Parthenon, das Herr Themaat ihm zeigte, war zwar vollkommen, sogar noch als Ruine, aber es war ihm auch zu luftig und zu durchsichtig. Herrn Themaat zufolge hatten die Römer in künstlerischer Hinsicht nie etwas selbst erdacht, dieses Runde und Düstere hätten sie etruskischen Grabmonumenten abgeschaut, den Tumuli , das in Rom auch noch am Mausoleum des Augustus oder an Hadrians Grabmonument, der Engelsburg, zu sehen sei. Das müsse er sich später alles selbst einmal anschauen.
Unter der Leitung von Themaat, der ihn Max gegenüber einmal »meinen
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