Die Entdeckung des Himmels
wir die Sterne so sehen, wie sie früher waren. Also sehen sie auf den Sternen die Erde auch so, wie sie früher war.
Wenn sie auf einem Stern, der vierzig Lichtjahre von hier entfernt ist, mit einem sehr starken Fernrohr zu uns herüberschauen, dann sehen sie jetzt dort, was hier vor vierzig Jahren passiert ist!«
»Stimmt das?« fragte Onno Max.
Max fühlte sich unbehaglich.
»Ja.« Es wunderte ihn, daß er auf diesen Gedanken nie selbst gekommen war: Das Bild vom Durchgangslager Westerbork raste jetzt irgendwo genauso mit Lichtgeschwindigkeit zwischen Arcuturus und Capeila A durch den Weltraum wie das von Auschwitz mit seinen rauchenden Schornsteinen.
»Theoretisch müßte es immer irgendwo im All zu sehen sein.
Nur ist es damit noch nicht getan.«
»Aber es wird doch auch reflektiert!« sagte Quinten.
»Reflektiert?«
»Du kannst doch mit diesen Teleskopen einen Stern betrachten, der zwanzig Lichtjahre von hier entfernt ist – dann siehst du doch, wie deine Mutter hier vor vierzig Jahren in den Zug gestiegen ist.«
Und an einer anderen Stelle wieder aussteigt, dachte Max.
»Du hast schon wieder recht. Vielleicht sollte man eher an ferne Planeten oder Monde denken, wenn es solche Dinge außerhalb unseres Sonnensystems überhaupt gibt, aber dann müßten wir zuerst ein ganz neues Wahrnehmungsprinzip entdecken.«
»Aber wenn das in hundert Jahren entdeckt ist, dann ist das, was hier passiert ist, auf einem Planeten oder einem Mond zu sehen, der fünfzig plus zwanzig Lichtjahre von hier entfernt ist.«
»Absolut korrekt.«
»Mir wird unwohl«, sagte Onno. »Quinten! Was ist los mit dir? Was geht bloß manchmal in dir vor?«
Quinten zuckte mit den Achseln. Für ihn war das alles ziemlich klar.
Während Sophia und Helga in der Küche beschäftigt waren, wie sich das nach Onnos Meinung für Frauen auch gehörte, unterhielten sich die Herren über die von Quinten begründete ›historische Astronomien Auch Proctor nahm an der Unterhaltung teil. Er hatte angeklopft, um sich Eier zu borgen, weil Clara und Arend über Nacht bei seiner Schwiegermutter blieben, und so hatte ihn Sophia eingeladen, mit ihnen zu essen.
Daß alles, was je auf der Erde geschehen war, noch immer irgendwo im Weltall gesehen werden konnte, war natürlich eine verführerische Idee von Quinten, aber nach Onnos Überzeugung technisch nicht zu realisieren. Es stimme zwar, daß man Satellitenaufnahmen der Erde bis in die kleinsten Einzelheiten vergrößern könne, vorausgesetzt, es sei während der Aufnahme wolkenlos gewesen, im Verteidigungsministerium wüßten sie darüber Bescheid, aber was bleibe von so einem Bild nach einer Reise von Dutzenden, Hunderten oder Tausenden von Jahren durch das Universum? Und wie sollte es aufgefangen werden? Planeten und Monde seien ja wohl nicht aus Spiegelglas, sondern übersät mit Steinen und Staub, und zudem rund statt hohl: die letzten Reste des Bildes würden augenblicklich diffundieren.
»Und so gehört sich das auch«, beschloß er, »die Vergangenheit ist für ewig versiegelt, und wer die Siegel zu brechen wagt, für den wäre es besser, nie geboren zu sein. Nur der Herr der Heerscharen sieht alles.«
»Ganz recht«, sagte Max, »dein optisches Wissen ist zwar verblüffend, aber genau so wurde immer schon geredet. Angenommen, ein zwölfj ähriger Junge hätte vor hundert Jahren zu seinem Vater gesagt, innerhalb von hundert Jahren werde nicht nur der Mensch den Mond betreten, sondern auch jeder auf Erden hiervon im selben Augenblick Zeuge –«
»Ja, ja, das kennen wir schon«, unterbrach ihn Onno. »Ich erinnere mich dunkel, daß du das vor elf Jahren schon einmal gesagt hast.« Er deutete in Helgas Richtung, die den Tisch deckte. »Ich danke dir auch nachträglich.«
Helga sah sich kurz um, und Max verbeugte sich höflich in Richtung der beiden. Dann fuhr er fort:
»Wenn du weiterhin an ein optisches Bild denkst: das ist natürlich nicht möglich und außer Frage, aber in der Radioastronomie arbeiten wir nun auch schon nicht mehr bloß mit optischen Bildern. Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie schwach die Signale sind, die wir in Westerbork auffangen?
Was die Sache so irreführend macht, ist die Tatsache, daß man bei großen Instrumenten und Maschinen unwillkürlich an große Kräfte denkt: Ein großer Staudamm produziert riesige Energiemengen, eine große Kanone schießt kilometerweit. Aber beim Synthese-Radio-Teleskop ist es gerade umgekehrt: da ist das Große für das Kleine
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