Die Entdeckung des Himmels
zig Leute vorbeikamen, war er sich sicher, daß er der einzige war, der die Besonderheit dieses Platzes erkannt hatte, denn er sah nie jemanden genauer hinschauen, und eigentlich war auch nichts Besonderes zu sehen. Es war die Stelle des Osterfeuers: eine kleine, rechteckige Weide, die auf drei Seiten von Wald umschlossen war und deren vierte Seite ein schmaler Feldweg bildete. Im Sommer graste dort eine rotbraune Kuh, die andächtig den Kopf hob, wenn er sich in den Graben setzte und die Arme um die Knie schlang. Vielleicht lag es an den beiden Bäumen, die aus dem dunklen Waldrand ausgerissen zu sein schienen und nun jeweils an der absolut richtigen Stelle in der Wiese standen, wo sie dem Raum Struktur verliehen, wie auch die drei großen Findlinge, aber auch das erklärte das Geheimnis nicht, das über dem Platz lag. Es war, als sei es dort wärmer und stiller als an vergleichbaren anderen Orten, an denen es ebenfalls warm und still war.
Er ließ seine Augen über das Gelände schweifen und dachte an den vergangenen Tag. Da sein Vater schon wieder seit mehreren Monaten keine Zeit hatte finden können, um ihn auf Groot Rechteren zu besuchen, war er mit Max nach Den Haag gefahren, wo sie sich zu seiner großen Freude im Parlamentsgebäude verirrt hatten. Im Fraktionszimmer meinte eine Mitarbeiterin, er sei im Sitzungssaal, und nach einer langen Wegbeschreibung, an deren Ende sie den Anfang schon vergessen hatten, machten sie sich auf den Weg durch das Labyrinth aus schmalen Gängen, treppauf, treppab, linksherum, rechtsherum, vorbei an langen Reihen mit Porträts entschlafener Parlamentsmitglieder, an Bibliotheken und Kommissionszimmern, Mädchen, die an Kopierern standen, und lauten, offenbar leicht angeheiterten Journalisten und Beratern, die sich auf Fensterbänke niedergelassen hatten. Aber erst nachdem sie zwei weitere Male nach dem Weg gefragt hatten, öffneten sie eine Tür und standen plötzlich auf der Publikumstribüne.
Im schönen, rechteckigen Saal mit viel Rot, Braun und Okker, der kleiner war, als Quinten erwartet hatte, lauschte ein halb im Stuhl liegender Minister am Regierungstisch einer Rede von irgend jemandem am Rednerpult, oder zumindest tat er so, insgesamt waren nicht mehr als vier oder fünf Abgeordnete im Saal, die sich alle ebenfalls zu langweilen schienen. Onno unterhielt sich mit dem Parlamentspräsidenten, entdeckte sie aber sofort und winkte ihnen zu, daß er gleich käme.
»Habt Dank, daß ihr mich aus der langweiligsten aller Löwengruben erlöst habt«, sagte er, führte sie in die Cafeteria und fragte Quinten unvermittelt, während der gerade in einen strammen Max biß: »Du bist jetzt zwölf – weißt du schon, was du später werden willst?«
Als er nicht gleich antwortete, sagte Max:
»Architekt, wenn du mich fragst.«
Quinten war es unangenehm gewesen, daß Max das gesagt hatte; es war ihm zu persönlich. Außerdem wollte er gar nicht Architekt werden.
Eine junge Frau in einem weißen Kleid rannte hinter vier Hunden her, sie hatte Ringe an allen Fingern und war auch sonst mit Ketten und Armbändern behängt; sie wohnte auf einem Bauernhof in der Nähe, wo eine Wohngemeinschaft von Amsterdamer Künstlern hauste. Aussteiger, die genug hatten vom Stadtleben. Fröhlich reckte sie kurz einen Arm hoch, und abwesend grüßte Quinten zurück.
Träumerisch nahm er etwas wahr, das nicht zu sehen war, das sich aber dennoch von der stillen Wiese mit der Kuh, den drei Findlingen und den beiden Erlen her auf ihn zubewegte.
Die Frage, was er werden wollte, hatte sich ihm nie gestellt. Er war, was er war – was sollte er denn noch werden? Sein Vater meinte natürlich irgendeinen Beruf, nur konnte sich Quinten einfach nicht vorstellen, jemals irgendeinen Beruf auszuüben, auch nicht den eines Architekten. Dieses Interesse hatte ausschließlich etwas mit seinem Traum von der Burg zu tun, aber das konnte Max nicht wissen. Aber vielleicht würde ja auch alles immer so bleiben.
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Das Nicht
Auch Onno wußte nicht, was er werden wollte, wurde aber im folgenden Jahr, 1981, nach den Wahlen von seinem Parteivorsitzenden als Verteidigungsminister vorgeschlagen. Die Mitte-Rechts-Koalition der vergangenen vier Jahre war von einem Mitte-Links-Bündnis abgelöst worden, an der Position des christdemokratischen Ministerpräsidenten wurde nicht gerüttelt, nur der konservative stellvertretende Ministerpräsident war mitsamt seinem Gefolge abgesetzt worden, um durch Liberale und die Sozialdemokraten
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