Die Entdeckung des Himmels
gedruckt war, fand er idiotisch: diese Buchstaben hatten die Römer gar nicht gekannt! Es mußten Großbuchstaben sein, am besten Quadrata. Herrn Spier zufolge war diese Schrift erst im Mittelalter und in der Renaissance entstanden, genau wie die griechischen Minuskel, die alten Griechen hatten ausschließlich in Großbuchstaben geschrieben. Als Onno einmal vom Parlament aus anrief, um zu sagen, wie schrecklich leid es ihm täte, daß er wieder einmal verhindert sei, beschwerte sich Quinten auch bei ihm: »Darf man das denn einfach so ändern? Das wäre doch so, als würde man Caesar in einem Jeansanzug statt in einer Toga abbilden?«
Woraufh in Onno ausrief: »Gut so, Quinten, du bist ein Sohn nach meinem Herzen! Das moderne Theater ist glücklicherweise nichts für dich. Bis daß Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis daß es alles geschehe.«
Das ist natürlich wieder etwas aus der Bibel, dachte Quinten, aber warum das eine Antwort auf seine Frage sein sollte, entging ihm. Seit dem Abend nach der Einweihung der neuen Teleskope bewunderte er seinen Vater noch mehr. Bei Tisch hatte er ihn gefragt, was das für ein Diskos sei, über den er mit Max geredet hatte, und zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß sein Vater eigentlich gar kein Politiker war, sondern ein Sprachgenie, der das Etruskische entziffert hatte, daß er etwas anderes war als dieser komische Vater von Arend, der sich nur mit sterilem Abrakadabra beschäftigte, wie Onno ihm später auseinandergelegt hatte; er selbst, hatte er gesagt, könne im Handumdrehen beweisen, daß Bacon das erste Buch Mose geschrieben habe oder die Romane von Nabokov: man brauche sich lediglich die ersten fünf Buchstaben von dessen Namen anzusehen und sehe sofort, daß es ein Anagramm von ›Bacon‹ sei, wobei man berücksichtigen müsse, daß das c im kyrillischen Alphabet das ka sei und die Endung ›ov‹ natürlich für ›of Verulam‹ stehe, das liege ja auf der Hand. Auch Max erzählte Quinten manchmal solche faszinierenden Dinge, zum Beispiel, daß es egal sei, in welche Richtung man schaue, das entfernteste Objekt sei immer man selbst; oder warum es – rätselhafterweise – nachts dunkel war und nicht noch viel heller als tagsüber, trotz der unendlich vielen Sterne, die alle zusammen doch eigentlich eine riesige Sonne bilden müßten, ein einziges, unendliches Licht, das ununterbrochen das ganze Firmament erleuchten müßte – aber Max war eben nicht sein Vater. Was sein Ziehvater mit dem Krieg zu tun hatte, mit Hitler, der seine Mutter ermordet hatte, befand sich in einer furchterregenden Welt, in der auch Herr Spier hauste, mit der er selbst jedoch glücklicherweise nichts zu tun hatte.
Auch auf dem Gymnasium richtete sich sein Interesse weiterhin auf Dinge, die dort nicht unterrichtet wurden. Freunde hatte er dort ebensowenig wie in der Grundschule; er war einfach noch nie jemandem in seinem Alter begegnet, mit dem er sich über die Dinge, die ihn beschäftigten, unterhalten konnte. Aber weder litt er darunter, noch wunderte es ihn, denn er hatte nicht einmal das Gefühl , anders zu sein als seine Klassenkameraden. In den Pausen redete und lachte er mit ihnen, aber eher wie ein Schauspieler, der seine Rolle spielt; nach der Vorstellung, wenn er wieder er selbst war, war die dargestellte Person vollkommen aus seinen Gedanken verschwunden. Aus diesem Grund fühlte er sich seinen Mitschülern auch nicht überlegen, denn es fiel ihm gar nicht ein, sich mit ihnen zu vergleichen.
In einem verzierten Kasten aus massiver Bronze, den er auf dem Speicher zwischen den Sachen des Barons gefunden hatte, verwahrte er die Skizzen, die er von der Burg aus seinen Träumen machte. Da sie nach allen Seiten hin unendlich war, mußte er sich notgedrungen auf Fragmente beschränken, auf Querschnitte, Grundrisse, die kein Ganzes bilden konnten, aber alle miteinander in Zusammenhang standen. Die gefalteten Zeichnungen steckten in einem dicken, beigefarbenen Umschlag vom Westerbork-Synthese-Radio-Teleskop, auf den er in seinem ersten Gymnasiumlatein und mit den schönsten Quadrata »Quintens Traum« geschrieben hatte: SOMNIUM
QUINTI.
Auf der Suche nach dem Gebäude hatte ihn Herr Themaat inzwischen auf die Spur der klassizistischen Revolutionsarchitektur gebracht, die sich um 1800 entwickelt hatte: vor allem in Entwürfen, denn gebaut wurde davon nur wenig. Quinten vernachlässigte wieder einmal seine Hausaufgaben
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