Die Entdeckung des Himmels
und betrachtete statt dessen die Zeichnungen Dutzender von Architekten aus dieser Schule, kehrte aber immer wieder zu den megalomanen Phantasien Boullées zurück. »Die sprengen wirklich alles«, sagte Themaat, und genau dieses Maßlose war es, was Quinten daran faszinierte. Riesige öffentliche Gebäude, ein Justizpalast, eine Nekropole, eine Bibliothek, ein Museum, eine Kathedrale, und allesamt von derart zyklopischen Ausmaßen, daß man eine Lupe brauchte, um die Menschen darin zu erkennen, die wie Ameisen über die Treppen und zwischen den turmhohen Säulen umherwimmelten; und dann ein gigantischer Tempel, den man sich laut Themaat als Kolosseum vorstellen mußte, das von einem Kuppeldach à la Pantheon gekrönt wurde. Er war über einem unzugänglichen, dunklen Felsspalt erbaut, der zum Inneren der Erde führte; am Höhleneingang wachte ein Standbild von Artemis Ephesia, der Göttin mit den vielen Brüsten. Quinten betrachtete es verschämt. Begann in diesem schwarzen Abgrund vielleicht die Welt der Burg? Er mußte einen Augenblick an seine Mutter denken, schüttelte den Gedanken aber gleich wieder ab. Er dachte fast nie an seine Mutter, denn von seinem Vater hatte er gelernt, daß er dann an nichts dachte; seit dem einen Mal hatte er sie auch nicht mehr besucht, denn wie sollte man niemanden besuchen? Zum Glück fragte ihn seine Großmutter nie, ob er sie nach Emmen begleiten wolle.
Faszinierend waren auch Boullées extreme Entwürfe für ein Newton-Monument. Wer Newton war, wußte er von Max: der Einstein des siebzehnten Jahrhunderts, mit dem die moderne Wissenschaft begonnen hatte und der, erzählte Themaat, im achtzehnten Jahrhundert als eine Art Messias verehrt worden sei, da er als erster das Werk des Weltbaumeisters verstanden und nachgerechnet habe. Boullées Kenotaph, eine kolossale Kugel mit einem Durchmesser von mehr als zweihundert Metern, weise mit drei treppenförmig angeordneten fensterlosen Zylindern zum Äquator hin, die mit gestaffelten Zypressen, den Totenbäumen schlechthin, bepflanzt seien. In der Kugel stehe im Zwielicht auf einem Podest ein leerer Sarkophag, das Licht komme ausschließlich durch kleine Öffnungen in der Kugelhaut, wodurch das Sonnenlicht in einen nächtlichen Sternenhimmel verwandelt werde. Als Quinten den winzigen Sarg in dem gigantischen Raum sah, kam wieder der Gedanke an seine Mutter in ihm hoch. Eine Zeichnung des Bauwerks bei Mondlicht wirkte wie eine unheimliche Drohung, als ob die Kugel eine schreckliche Bombe wäre, die jeden Augenblick explodieren und die ganze Welt verwüsten könnte, und eines Tages bildete er sich ein, daß aus der Oberseite der Kugel eine schwelende Lunte ragte. Und während er Herrn Themaat diesen Eindruck schilderte, sah er noch etwas anderes: Die Bombe mit der Lunte war zugleich ein Apfel mit Stiel.
»Wenn Sie mich fragen, ist das Gebäude eigentlich der Apfel, den Newton auf den Kopf bekommen hat.«
»Das hat noch niemand so gesehen«, lachte Themaat. »Bisher haben wir immer an das Weltall gedacht.«
»Und jetzt weiß ich auch, was das für ein Apfel war, der Newton auf den Kopf gefallen ist.«
»Ist es ein Geheimnis, oder darfst du es mir erzählen?«
»Der Apfel, den Eva im Paradies gepflückt hat.«
»Vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse!« ergänzte Themaat und verfiel plötzlich in einen seiner merkwürdigen, übertriebenen Lachanfälle, an denen sogar seine langen Arme und Beine teilnahmen, so daß sein Schaukelstuhl umzukippen drohte. »Hilfe! You did it again , Kuku! Und um deine These zu beweisen«, fuhr er fort und erhob sich, »werde ich dir gleich noch etwas anderes zeigen.« Während er in den Zeitschriftenstapeln suchte, die in Bodenhöhe seines Bücherregals lagen, sagte er zu Quinten, die Ähnlichkeit von Boullées Newton-Kenotaph mit dem Pantheon sei ihm doch sicher aufgefallen: das fensterlose Hohe und Runde, das in beiden Fällen das Universum darstelle. »Aber wenn der Begründer der modernen Wissenschaft also unter dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gesessen hat«, sagte er, »was hältst du dann hiervon?« Mit einem gewissen Triumph legte er ein Bild von einem Kernreaktor auf den Tisch. »Da wir gerade von deiner Bombe sprechen. Siehst du, daß dieses Ding genau in die stilistische Tradition des Pantheons und von Palladio und Boullée paßt? Und das Verrückte dabei ist, diese Fabrik wurde nicht in einer ästhetischen Tradition entworfen, sondern rein funktional, von staatlich eingesetzten
Weitere Kostenlose Bücher