Die Entdeckung des Himmels
begegnet, wo sie als Bibliothekarin arbeitete. Er hatte sich augenblicklich in sie verliebt, weil sie genau so aussah, wie er sich Bibliothekarinnen – fälschlicherweise – vorstellte: groß, schlank, mit hochgestecktem Haar und einem strengen holländischen Gesicht, wie die Regentin eines Waisenhauses auf einem Gemälde von Frans Hals, nur jünger.
Ab und zu räumte sie die Souterrainwohnung auf, in der er hauste wie ein Hamster in seiner Höhle. Von Zeit zu Zeit verdiente er mit Artikeln und Vorträgen ein wenig, brauchte dieses Geld jedoch nicht wirklich; er gab wenig aus und kam mit einer Zulage aus seinem künftigen Erbteil aus. Während eines Familiendiners hatte ein sechsjähriger Neffe ihn einmal gefragt: »Onkel Onno, was willst du später einmal werden?«
Nachdem sich das Gelächter gelegt hatte, hatten alle ihn erwartungsvoll angesehen, worauf er gesagt hatte: »Diese Frage ist zu gut, um sie mit einer Antwort zu verderben.« Wenn er gewollt hätte, wäre er schon längst Dozent an der einen oder anderen Universität im Inoder Ausland geworden, es kamen immer wieder Angebote; aber er hatte keine Lust, seine Art zu leben aufzugeben. Er sah sich lieber als Kammergelehrten aus dem achtzehnten Jahrhundert; der Lehrbetrieb war ihm zu profan. Professoren waren seiner Meinung nach so etwas wie Schwimmlehrer – und wer hatte je einen Schwimmlehrer im Wasser gesehen? Niemand, denn sie konnten gar nicht schwimmen, hatten nur vom Rand aus immer viel zu erzählen; er jedoch durchschnitt das Wasser mit einem nichts und niemanden schonenden Schmetterlingsschlag.
Es begann an einem sonnigen Samstagnachmittag, der Frühling war mit einem grandiosen Spagat aus den Kulissen zum Vorschein gekommen, die Fenster standen offen, und die milde Luft füllte das Wohnzimmer. Onno hatte einige Papiere zum Einhorn mitgenommen, aber die Arbeit wollte schon seit Wochen nicht vorangehen. Wie ein gestrandetes Schiff lag sein großer Körper auf der Couch.
»Dieser widerliche Pernier«, stöhnte er. »Ich wollte, er hätte dieses Ungetüm von Schrifttafel 1908 sofort in tausend Stücke zerspringen lassen. Aber dann hätte er sie wahrscheinlich wieder zusammengeklebt. Da hält sich irgendwo ein ganzes Volk mit Helmen und Äxten versteckt und rührt sich nicht von der Stelle.«
Helga nahm die Lesebrille ab und sah von ihrem Buch auf.
»Warum läßt du die Sache nicht eine Weile ruhen? Nimm dir was anderes vor.«
»Weißt du eigentlich, was du da sagst? Ich weiß genau, wer alles an diesem Thema arbeitet, die fassen zwischendurch auch nichts anderes an. Was liest du?«
Als ob sie es nicht wüßte, sah sie auf den Umschlag.
»Progress in Library Science.«
»Dieses Buch, liebe Helga, ist gedruckt , nicht wahr? Und all die Bücher, von denen es handelt, sind auch gedruckt. Jeder denkt, daß das Drucken mit losen Stempeln vor tausend Jahren in China erfunden wurde, aber weißt du, wer es wirklich erfunden hat?« Er wedelte mit einem Foto des Diskos von Phaistos. »Die Menschen, die das hier gemacht haben.
Vor viertausend Jahren! Das hier ist gestempelt! Wenn es also wirklich solche präalphabetischen Genies waren, dann wird hier doch wohl auch etwas Interessantes stehen! Und dann sollte ich , finde ich, der erste sein, der es lesen kann, nicht wahr? Das Elend besteht darin, daß wir nur dieses eine Exemplar haben und man sicher keine Stempel macht nur für eine einzige Tafel. Es muß viel mehr geben, aber auf Kreta wurde nichts weiter gefunden. Es ist übrigens nichts minoisches, schau, diese komische Sänfte hier, was ist das für ein Ding? Was bedeutet es? Vielleicht müssen wir woanders suchen, aber wo? In welcher Sprachenfamilie?«
»Aber hast du denn keinen einzigen Anhaltspunkt?«
»Ich werde dir erklären, in welcher Position ich mich befinde.« Er hob die Zeitung vom Boden auf und kritzelte etwas auf den Rand. »Schreib folgende Zahl auf: dreiundacht-zigmilliardeneinhundert-neunundfünfzigmillionensechshun-dertvierundsiebzigtausendeinhundertzwei.« Und als sie sie notiert hatte auf dem Blatt, auf dem sie ihre Notizen machte: »Stell dir jetzt einen eingeborenen Kryptographen im australischen Urwald vor, der nicht weiß, daß das Zahlen sind; er sieht nur elf unbegreifliche Zeichen: 8 3 1 5 9 6 7 4 1 0 2. Sie unterscheiden sich alle voneinander, nur zweimal kommt das Zeichen 1 vor. Was kann er daraus schließen? Gar nichts. Das ist der Punkt, an dem ich mich jetzt befinde. Angenommen, er hat den genialen Einfall, daß es
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