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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Wasser aber an derselben Stelle blieb; und über den Krieg, über Adolf Hitler, den sie das A.H.-Erlebnis nannten; und über die Zwillingstöchter von Max Planck, dem Entdecker der Quantenmechanik: die eine gebar eine Tochter und starb im Kindbett, die andere sorgte für das Kind und heiratete den Witwer, bekam zwei Jahre später selbst ein Kind von ihm und starb ebenfalls im Kindbett – außerdem fiel sein erster Sohn im Ersten Weltkrieg, während sein zweiter im Zweiten hingerichtet wurde.
    Die Plancksche Konstante!
    Später würde es ihnen vielleicht einmal leid tun, keine Notizen von diesen Tagen gemacht zu haben; aber wenn sie Notizen gemacht hätten, wäre nichts so gewesen, wie es war. Onno hätte dann vielleicht nicht erzählt, was er im Morgengrauen erzählte: daß seine Mutter gehofft hatte, er wäre ein Mädchen gewesen. Er war ein Nachzügler und bis zu seinem vierten Lebensjahr mit langen Korkenzieherlöckchen herumgelaufen und in rosa Kleidchen mit Schleifchen. Die Beweise dafür hatte er systematisch vernichtet; es war nicht nur im Fotoalbum seiner Eltern kein süßes Bildchen mehr davon zu finden, auch die Alben seiner Geschwister hatte er unter gerissenen Vorwänden gefilzt.
    Nickend sah Max ihn an.
    »Dann erzähl mir jetzt«, sagte er, »was du wirklich nie jemandem erzählen wirst.«
    Soviel Onno auch getrunken hatte, es gab immer einen Punkt, an dem er nüchtern war. Er stellte sein Glas ab.
    »Es war entsetzlich! Als Student hatte ich ein Zimmer und versuchte dort, die Philosophie der Gesetzesidee in meinen Kopf zu pauken. Neben mir wohnte eine alleinstehende Mutter, ein Mädchen mit einem Baby, das ununterbrochen schrie.
    Gott weiß, was in mich gefahren war. An einem Winterabend rannte ich gereizt zu ihr ins Zimmer, sie saß am Tisch und nähte Kleider, das Baby kreischte. Ja, nach einem Vater, natürlich! An der Wand stand ein altmodischer Kohleofen, rotglühend. Ich riß das Wurm aus seiner Wiege, hielt es mit meiner Rechten an einem Knöchel hoch, ergriff mit der Linken den Schürhaken, hob den Deckel vom Ofen und hielt das Kind mit dem Kopf nach unten über die Glut. Ich sagte nichts und sah die Mutter nur an. Sie war erstarrt und sah aus wie ein Foto ihrer selbst. Auch das Baby war zum ersten Mal still. Entsetzlich! Dafür hätte ich festgenommen und ins Gefängnis geworfen werden müssen!«
    Er ließ Max’ Augen nicht los.
    »So«, sagte er dann. »Das weißt du jetzt also. Aber du hast mich das nicht einfach nur so gefragt, denn du wußtest, daß die Gegenfrage kommen würde. Du hast gefragt, weil du selbst erzählen willst, was du nie jemandem erzählen wirst.
    Also beichte.«
    Max nickte.
    »Als mein Pflegevater letztes Jahr im Sterben lag«, sagte er ziemlich tonlos, »bekam ich einen Brief von meiner Pflegemutter. Ich sah sie nur noch selten, denn es scheint offenbar unverzeihlich zu sein, wenn jemand gut zu einem gewesen ist. Sie schrieb, er wolle mich noch einmal sehen, bevor er sterben müsse.«
    »Du kannst schon aufh ören«, sagte Onno.
    Der Alkohol hatte schlagartig seine Wirkung verloren. Nach einiger Zeit stand Max auf und stellte das Buch von Kafk a wieder an seinen Platz. Unschlüssig blieb er stehen, zündete dann einer Eingebung folgend eine Kerze an, die auf dem Eßtisch stand. Er drehte sich um, sah auf die Uhr und sagte: »Es ist sieben Uhr. Ich habe Appetit. Laß uns im American Hotel frühstücken. Außerdem habe ich mittlerweile wieder das Bedürfnis nach einer zärtlichen Eskapade. Vielleicht sitzt dort schon ein Early Bird , man kann nie wissen.«

5
Draußen spielen
    Die siamesischen Zwillinge hatten ihre Bezeichnung von den Brüdern Eng und Chang, die im vorigen Jahrhundert dreiundsechzig Jahre lang gelebt hatten: um Onno zu amüsieren, hatte Max in einer Enzyklopädie nachgeschlagen. Da sie an der Brust zusammengewachsen waren, wurden sie in der medizinischen Terminologie als Thoracopagus bezeichnet; Onno wußte sofort, daß sie, weil sie mit Inbrunst zusammengewachsen waren, folglich ein Mentopagus waren.
    Die Folge war, daß sie jeweils das Leben des anderen zu verändern begannen.
    Ende März wohnte Onno wieder für einige Tage bei seiner Freundin; wie immer hatte er die schmutzige Wäsche mitgenommen. Sie wohnte an einer ruhigen Seitengracht über einem Trödelladen, der in der Regel geschlossen hatte, in einem schmalen Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert mit einem Giebelstein: Das Einhorn. Vor einigen Jahren war er ihr am kunsthistorischen Institut

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