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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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große Spinnen erkannt, daß sie ihre Netze genau vor seine Fensterscheibe spannen mußten. Er verstand sie nicht: Einerseits waren sie raffinierte, geniale Baumeister, die mit unendlicher Geduld hauchdünne Gewebe spannen aus einem Stoff, der ihn an das Zeug erinnerte, das er seit einigen Monaten gelegentlich morgens beim Aufwachen in seiner Schlafanzughose fand – nach einem seligen Traum, an den er sich nie erinnern konnte, der aber nichts mit der Burg zu tun hatte –, andererseits entpuppten sie sich, nachdem ihr Werk einmal vollendet war, als ebenso ausdauernde wie grausame Raubmörder, die erbarmungslos über ihre Beute herfielen, sie totbissen, ihre Flügel zerknitterten, einspannen, und die Tiere anschließend aussaugten. Wie paßte das zusammen, diese architektonische Feinarbeit und die wüste Aggression?
    Es gab Spinnen, die am Rand ihres Netzes warteten, bis sich die Beute in ihrer silbernen Verdammnis verfing, aber es gab auch andere, die genau in der Mitte saßen. Und eines Abends wurde ihm plötzlich klar, daß die klare Struktur ihrer Spinnweben wie eine geometrische Abbildung ihre widerlichen Körper mit den acht haarigen Beinen verlängerte, eine Art durchsichtige Ableitung oder mathematische Abstraktion.
    Darüber mußte er mehr erfahren, und er beschloß, das Problem Herrn Themaat vorzulegen.
    »Weißt du, was mit dir los ist, Kuku«, sagte Themaat am nächsten Tag mit der Ergebenheit eines Schülers, der seinen Meister gefunden hat, »du – Ach, laß nur. Ich weiß nicht, was mit dir los ist.«
    Und er fügte nach einer Weile hinzu, Quinten habe schon zum soundsovielten Mal ins Schwarze getroffen. Er sprach bedächtiger als früher, und seine ausgelassenen Lachkrämpfe hatte Quinten schon lange nicht mehr zu hören bekommen.
    Es war, als ob sein Kopf reglos auf dem Rumpf festgewachsen wäre, aus einem nahezu ausdruckslos gewordenen Gesicht blickte Quinten ein weit offenes, fast starres Augenpaar an. Von Sophia hatte Quinten gehört, daß das mit den Tabletten zu tun hatte, die er einnehmen mußte: davon werde man so. Er sah aus, als hätte er sich in eine Wachsfigur seiner selbst verwandelt, in eine Figur aus Madame Tussauds Kabinett, aber er sprach klar und mit wachem Verstand.
    Über die Spinnwebe, erklärte er, sei Quinten auf die ›Homo-Mensura-These‹ gestoßen: Protagoras’ Idee, der Mensch sei das Maß aller Dinge. In der römischen Antike habe Vitruvius gefordert, ein Tempel müsse die idealen Proportionen des menschlichen Körpers aufweisen, wie dies bei den Griechen der Fall gewesen sei; das Mittelalter habe diese Forderung in dem alttestamentarischen Satz fortgeschrieben, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen, und so den menschlichen Proportionen einen göttlichen Ursprung gegeben, und die These mit dem neutestamentarischen Hinweis auf die zentrale Bedeutung des Corpus Christi untermauert. In der Baukunst habe das zu Kirchen und Kathedralen in Form eines lateinischen Kreuzes geführt, dem rohen Schema der menschlichen Gestalt, aber erst in der Renaissance habe sich diese Auffassung zu einem ausgeklügelten, philosophisch-architektonischen System entwickelt.
    »Leg dich einmal auf den Boden«, befahl Herr Themaat.
    Verwundert sah Quinten ihn an.
    »Ich?«
    »Ja, du.«
    Während Quinten tat, was ihm gesagt worden war, erhob sich Themaat langsam, wie in Zeitlupe, aus seinem Schaukelstuhl und bat Elsbeth um eine Schnur.
    »Eine Schnur?« wiederholte sie mißtrauisch. »Was hast du in Gottes Namen vor, Ferdinand? Willst du ihn fesseln?«
    »Gib mir bitte eine Schnur.«
    Sie nahm ein Knäuel weißer Wolle aus dem Korb.
    »Geht das auch?«
    »Noch besser sogar.«
    Themaat bat Quinten, die Knöchel aneinanderzulegen und die Arme auszubreiten. Auf den Knien breitete er den Faden in einem Quadrat über den Teppich, das oben genau Quintens Kopf, seitlich die Spitzen seiner Mittelfinger und unten die Fersen berührte. Dann mußte Quinten seine Beine spreizen und die Arme etwas höher nehmen, und Themaat legte einen zweiten weißen Faden an, der in einem Kreis Fußsohlen und Fingerspitzen tangierte. Nachdem Quinten vorsichtig aufgestanden war, betrachtete er die doppelte Figur. Der Kreis ruhte auf der unteren Seite des Vierecks; seitlich und oben umschrieb er es. Themaat nahm einen Gulden aus seiner Tasche und legte ihn genau in den Mittelpunkt des Kreises, der mit dem des Vierecks identisch war.
    »Das ist exakt die Stelle deines Nabels«, sagte er, »durch den du mit deiner

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