Die Entdeckung des Himmels
irgendwann einmal; aber vor einigen Tagen haben wir auch Tante Helga begraben. Kannst Du Dir vorstellen, daß ich es plötzlich nicht mehr ertrage? Vielleicht hättest Du das nicht von mir erwartet, und vielleicht findest Du das blöd von mir, aber ich kann es nicht ändern. Es ist wie mit einem Streichholz: Man kann es zweimal brechen, und die Hälften bleiben aneinander hängen, aber beim dritten Mal, da zerbricht es. In manchen Ländern gibt es kleine Wachsstreichhölzer, die man so lange hin und her biegen kann, wie man will, sie zerbrechen nie, aber so bin ich nicht. Diese Wachsstreichhölzer taugen übrigens nichts, man verbrennt sich immer die Finger daran.
Daß ich Dir diesen Brief schreibe, bedeutet auch für Dich wieder eine Veränderung. Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich weg. Ich bin untergetaucht, wie das im Krieg hieß; damals tauchten die Menschen unter, weil sie vor den Deutschen Angst hatten, ich bin vor dem Dasein untergetaucht. Vielleicht findest Du das merkwürdig bei so einem Sprücheklopfer wie mir, vielleicht wirst Du mich eines Tages dafür verachten, und vielleicht tust Du das ja jetzt schon, aber so ist es nun einmal. Ich bin weg für Dich, wie ich für mich selbst weg bin. Du wirst mich kaum vermissen, denn es ändert sich nicht viel. Ich war Dir nie ein richtiger Vater, immer eher eine Art ferner Onkel. Max ist Dein Vater, wie Oma Deine Mutter ist. Es gibt Väter und Söhne in der Welt, und ich habe immer mehr zu den Söhnen als zu den Vätern gehört. Vielleicht bist Du mehr ein Vater als ich.
Vergiß mich, ich möchte nur noch eine Weile nachdenken. Betrachte mich einfach als Eremiten, der für den Rest seines Lebens in die Wüste geht.
Vergib mir und suche mich nicht, denn Du wirst mich nicht finden.
Dein verlorener Vater
Quinten sah auf und begegnete den Blicken von Max und Sophia, die auch ihre Briefe bereits gelesen hatten. In der Morgensonne hatten sich die ersten Wespen auf den Honigresten niedergelassen.
»Was ist ein Eremit?«
»Ein Einsiedler.«
»Ist Papa jetzt genauso weg wie Mama?«
Max hörte ständig eine Gedichtzeile in seinem Kopf: ich bin der Welt abhanden gekommen – es war, als verberge sich Onnos Botschaft dahinter und könne noch nicht richtig bis zu ihm vordringen. Auch der Satz, in dem Onno sagte, sein Leben sei in weit höherem Maße von ihm, Max, bestimmt worden, als er selbst ahne, hatte ihn erschreckt, aber aus dem Zusammenhang war ersichtlich, daß sich das nicht auf Quinten beziehen konnte. Verwirrt sah er Quinten an und suchte nach einer Antwort auf dessen Frage, aber Sophia kam ihm zuvor: »Natürlich nicht. Er ist einfach irgendwo, aber er möchte mit niemandem mehr sprechen. Er ist sehr traurig wegen Tante Helga, und deshalb sagt er das jetzt alles. Ich glaube – « Plötzlich wurden ihre Worte vom ohrenbetäubenden Donnern einer Flugstaffel verschluckt; sie wartete, bis das Geräusch hinter den Wäldern wie das Grollen eines fernen Gewitters klang, und fügte dann hinzu: »Die Zeit heilt alle Wunden. Es würde mich nicht wundern, wenn er in einigen Monaten plötzlich wieder vor der Tür stünde.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Max. Zwar erschien ihm das nicht ganz ausgeschlossen, aber er fand, man sollte bei Quinten keine falschen Hoffnungen wecken. »Dann hätte er sich einfach eine Weile zurückgezogen. Aber wer solche Briefe schreibt, mit dem ist etwas anderes geschehen. Dürfen wir deinen Brief auch lesen, Quinten?«
»Jetzt nicht, ich muß in die Schule.«
»Ich rufe kurz an, daß du etwas später kommst.« Widerstrebend händigte Quinten ihm den Brief aus und las den von Sophia und von Max. Er begriff zwar nicht alles, aber dafür bekam er wieder eine Vorstellung von der großen Freundschaft, die es zwischen seinem Vater und Max gegeben hatte. Auch im Brief an Max stand, daß eigentlich Max sein Vater sei, aber eben nur eigentlich, denn derjenige, der den Abschiedsbrief geschrieben hatte, war nicht nicht sein Vater, sondern tatsächlich sein Vater. Max war nur sozusagen sein Vater, wie Oma nur sozusagen seine Mutter war.
»Darf ich Mamas Cello jetzt in mein Zimmer stellen?«
»Selbstverständlich«, antwortete Max. »Wenn ich wieder im Westen bin, werde ich es bei Tante Dol abholen.«
Quinten seufzte tief und schaute über den Schloßgraben hinüber zu den Bäumen und den Remisen. Um sich herum spürte er die Abwesenheit seines Vaters viel stärker, als er je seine Anwesenheit gespürt hatte, und es kam ihm vor, als
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