Die Entdeckung des Himmels
ob er jetzt viel mehr anwesend sei als früher, als er noch dagewesen war.
Wie funktioniert das eigentlich, daß sich die Zeiten so plötzlich ändern, fragte sich Max einige Monate später manchmal, wenn er von Tsjallingtsje kam und im stillen Schloß noch ein oder zwei Gläser Wein trinken wollte, aber dann doch die ganze Flasche leerte. In den sechziger Jahren revoltierten in Berkeley die Studenten, kurz darauf traten in Amsterdam die Provos auf den Plan, und dann wurden auch in Berlin und Paris die Universitäten besetzt. Da mochte es ja noch einen kausalen Zusammenhang geben, aber weshalb passierte es auch in Warschau, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs? Und wieso fand zur selben Zeit in China die Kulturrevolution statt, die auch eine Massenbewegung vor allem junger Menschen war? Diese Ereignisse hatten nichts miteinander zu tun, und dennoch fanden sie zur gleichen Zeit statt. Das kaiserliche Japan hatte nichts mit Nazi-Deutschland zu tun, und dennoch wurde es im selben Moment ebenso aggressiv. Existierte Hegels Weltgeist vielleicht tatsächlich, und war die Menschheit als Ganzes der Ebbe und Flut rätselhafter Grundmeere ausgesetzt, die sich nicht um politische Unterschiede kümmerten? Alles Fragen, auf die es keine Antwort gab, auch nicht im kleinen, in seinen persönlichen Lebensumständen, wo etwas Vergleichbares passierte. Ein Unglück kommt selten allein , lautete das unausstehliche Sprichwort; aber seit er sich den Fünfzig näherte, fing er langsam an zu begreifen, daß Klischees einfach Wahrheiten waren. Obwohl es tatsächlich keinen Zusammenhang gab, schien es im nachhinein, als ob Onnos Verschwinden auch das Ende ihrer Zeit auf Groot Rechteren eingeläutet hätte.
Als der Baron nach langer Krankheit doch noch unerwartet von uns gegangen war, wie die Trauerkarte meldete, hatte dies zunächst etwas Erfreuliches zur Folge. Als Quintens Vormund erhielt Max eine Vorladung eines Notars in Zwolle, der ihm mitteilte, der Verstorbene habe diesen in seinem Letzten Willen bedacht. In einem vornehmen, holzgetäfelten Raum, der ab und zu auch von einer geräuschlosen Dame betreten wurde, las ihm der ledrige Staatsbeamte Gevers Verfügung vor. Es sei dem Verblichenen nicht entgangen, daß Quinten regelmäßig mit der Sense das Grab von Deep Thought Sunstar von Brennesseln befreit habe, als Belohnung dafür erkenne er ihm zehntausend Gulden zu. Dreißigtausend erhalte er für die Tatsache, daß er das Lebenswerk des Sohnes Rutger ermöglicht habe: den »ganz großen Vorhang« – der inzwischen zehn mal zehn Meter maß. Zusammen vierzigtausend Gulden, das sei viel Geld, sagte der Notar, und die gräfliche Familie werde sich vermutlich nicht eben freuen, aber alles in allem laufe es auf eine Rückerstattung des Mietzinses seit 1968 hinaus. Sie hätten sozusagen all die Jahre über umsonst gewohnt.
»Übrigens, falls es Sie interessiert –«, sagte er, als er Max zum Ausgang brachte, »kann ich Ihnen mitteilen, daß die Erben Groot Rechteren in der nächsten Zeit veräußern wollen.
Sie können es kaufen, wenn Sie möchten. Für fünfh underttausend gehört es Ihnen, ohne den Park und die Wohnung von Frau Trip, aber inklusive der Remise und der Stallungen.
Spottbillig.«
»Woher soll ich eine halbe Million nehmen?« lachte Max.
»Ich muß mit einem Wissenschaftler-Hungerlohn auskommen.«
»Besprechen Sie die Sache mit Ihrer Bank. Und wenn es für Sie allein zuviel sein sollte, könnten Sie sich überlegen, mit Ihren Mitmietern eine Eigentümer-Kooperative zu gründen, die als Käufer fungieren könnte. Man weiß ja nie, was sonst noch alles passiert. Nach der Übereignung an einen Dritten kann Ihnen nach drei Jahren gekündigt werden, und so etwas wie das bekommen Sie nie wieder. Wenn Sie Fragen haben: Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Aber schieben Sie die Entscheidung nicht zu lange hinaus, die Konkurrenz schläft nicht.«
Damit war eine Zeit der Verwirrung und der Unsicherheit angebrochen, aber die unmittelbare Folge war auch ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl. Nie zuvor hatten sie auf dem Schloß so oft zusammengesessen: bei Max und Sophia, zwischen Theo Kerns gurrenden Tauben, auf den preziösen Empiremöbeln von Herrn und Frau Spier, manchmal auch oben bei Proctor und Clara zwischen den Regenschirmen; meistens aber in der Bibliothek von Themaat, dem es in der letzten Zeit nicht gutging. Da keiner von ihnen vermögend war, ließen sie den Notar die Statuten eines Mietervereins
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