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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Hier wurden sie natürlich auch rausgeekelt, aber sie waren sich ganz sicher, eines Tages in ihre eigene Republik, Maluku Selatan, zurückkehren zu können. Deshalb wollten die armen Teufel nicht weg aus diesen Baracken, denn das hätte bedeutet, daß sie sich mit der Situation abgefunden haben. Ihre Söhne haben für dieses Ideal Züge entführt und sitzen jetzt im Gefängnis. Außerdem waren sie der Meinung, die niederländische Regierung schulde ihnen noch den ausstehenden Sold, zweitausend Gulden oder so. Dafür haben sie ihr Leben lang mit Petitionen und Demonstrationen gekämpft, und als sie ihn schließlich bekamen, war ihr Leben vorbei. Sie konnten sich nicht einmal einen Farbfernseher dafür kaufen. Und jetzt sind sie steinalte Männer, die immer noch die Fahne eines Landes hissen, das es nicht gibt. Sollten wir nicht eine Lehre daraus ziehen und so schnell wie möglich von hier verschwinden?«
    Während Sophia einen Wattebausch auf die kleine Wunde ihres linken Oberschenkels drückte, sah sie auf.
    »Ich mag es nicht, wenn du einfach so in mein Schlafzimmer kommst, Max.«

47
Die Musik
    Um sich vor Pacos Bellen zu schützen, saß Verloren van Themaat tagsüber jetzt meistens in dem kleineren Zimmer, das sich unter Sophias Schlafzimmer befand, in Elsbeths Reich, wo sie auch aßen. An einem schwülen, bedeckten Sonntagnachmittag im Spätsommer 1984 fragte Elsbeth Quinten, ob er ihren Mann nicht wieder einmal besuchen käme, er würde sich bestimmt sehr darüber freuen.
    Herr Themaat lag mit gefalteten Händen auf dem Diwan vor dem Fenster, das auf den Schloßgraben ging. Das Panorama war das gleiche wie oben, aber in einem anderen Winkel: die Wasserlilien und die Enten waren näher, die Bäume höher. Da draußen dunkle Wolken hingen, brannte bereits eine Lampe, und es war leise Musik zu hören, irgendein Violinkonzert, vielleicht, um das nun gedämpfte Bellen zu übertönen. Themaat ging es schlecht. Quinten konnte sich nicht vorstellen, daß dieser alte kranke Mann derselbe war, den er früher einmal gekannt hatte. Er setzte sich, und da er nicht mit einer Frage gekommen war, wußte er nicht, was er sagen sollte, er hatte sich noch nie nur so mit ihm unterhalten. Er betrachtete den antiken Sekretär von Frau Themaat. In der symmetrischen Maserung des Mahagoniholzes erblickte er eine teuflische, fledermausähnliche Gestalt: einen Kopf mit zwei großen Augen auf der oberen Schublade, die gespreizten Flügel auf der zugeklappten Schreibplatte, die Krallen unten auf den beiden Türchen.
    Es schien, als sei die Situation auch für Herrn Themaat nicht einfach. Mit seinen Augen ging etwas Merkwürdiges vor: Er blinzelte, jedoch nicht so schnell wie ein normaler Mensch, sondern unendlich langsam, als sei er todmüde.
    »Ja, Kuku –«, sagte er, »die Zeiten ändern sich. Wie alt bist du jetzt?«
    »Sechzehn.«
    »Sechzehn schon wieder –.« Er richtete seinen Blick auf die Eichenbohlen an der Decke. »Als ich sechzehn war, das war im Jahr neunzehnhundertsiebenundzwanzig. Im Mai flog Lindbergh als erster nonstop über den Atlantik, ich erinnere mich noch genau. Ich lebte damals in Haarlem, in der Nähe des Vlooienveld, wie wir es nannten; da lungerte ich oft mit meinen Freunden herum. Das Vlooienveld war eine ausgedehnte Wiese gegenüber einem großen, weißen Pavillon aus dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, mit Säulen und einem Tympanon und allem, was du so magst.« Quinten sah, daß er es wieder vor Augen hatte. »Mit seiner Grandezza paßte es überhaupt nicht in dieses gutbürgerliche Haarlem.« Er schaute Quinten an. »Ich war damals auch sehr interessiert an dem Neuen Bauen, an De Stijl, dem Bauhaus und so. Ich habe deine Vorliebe immer etwas merkwürdig gefunden für einen so jungen Kerl, aber soll ich dir mal was sagen?
    Du bist hochmodern mit deinem Palladio und deinem Boullée und diesen Leuten.«
    »Wie meinen Sie das?«
    Herr Themaat hob kurz eine Hand, vielleicht, um sich damit über das Gesicht zu fahren, ließ sie dann aber zitternd wieder sinken.
    »Ich bin in der Fachliteratur schon lange nicht mehr auf dem laufenden, aber nach dem Klassizismus und dem Neoklassizismus sind all diese klassischen Formen zum dritten Mal wiedergekommen. Im Jahr zweitausend wird die Welt voll davon sein, denk an mich, du wirst es erleben. Am Anfang dachte ich, es sei eine Modeerscheinung, aber es geht viel tiefer. Du bekommst recht, und ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll. In der bildenden Kunst, in

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