Die Entdeckung des Himmels
die griechisch-göttliche Weltharmonie auch noch in Verbindung mit dem Jahwe des Alten Testamentes getreten, der Moses befohlen hatte, den Tabernakel nach genau vorgeschriebenen Maßen zu bauen, aber das weiß ich nicht mehr genau.
Hab’s vergessen.«
»Den Tabernakel?« fragte Quinten.
»Das war ein Zelt, in dem die Juden während ihres Zuges durch die Wüste ihre Heiligtümer aufstellten.«
»War es viereckig oder rund?«
»Du sagst es, genau das ist die Frage, und genau da liegt auch die Schwierigkeit, Platon und die Bibel miteinander in Einklang zu bringen. Es geht um Vierecke, wenn ich mich recht erinnere, und nicht um Rundes. Das ganze Zelt mußte rechteckig sein.«
Rechteckig? Griechische und ägyptische Tempel waren doch auch rechteckig – rechteckig wie Betten? Quinten starrte in die Luft, bekam aber keine Gelegenheit, seinem Gedanken zu folgen, denn Themaat kam zum Schluß.
Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, sagte er, an der Schwelle zur Neuzeit, bei der Geburt der modernen Wissenschaft, sei alles untergegangen. Daß die Musiktheorie das metaphysische Fundament der Welt sein sollte und noch dazu von Körper und Seele und Baukunst, sei damals als obskuranter Unsinn verworfen worden – und das habe in direkter Weise zu Boullée und Speer geführt. Die harmonischen Verhältnisse änderten sich natürlich nicht, wenn man die Elemente um ein Hundertfaches vergrößere, aber da die Abmessungen des menschlichen Körpers als das Maß aller Dinge immer noch die gleichen seien, werde der Mensch in dieser Architektur im Verhältnis hundertmal kleiner, wodurch jegliche Harmonie zerstört und die menschliche Seele auf ägyptische Art ausgelöscht werde.
Langsam und wie etwas unendlich Schweres hob Herr Themaat einen Zeigefinger.
»Und was du momentan siehst, Kuku, ist die unerwartete Rückkehr all dieser klassischen Motive, all die Stylobaten und Schächte und Kapitelle und Friese und Tympana sind wieder da – glücklicherweise in menschlichen Maßen, wenn auch oftauf völlig widersinnige Weise. Als ob irgendwo hoch oben im Weltraum das klassische Ideal explodiert wäre und die Scherben und Splitter jetzt zurück auf die Erde fallen, alles durcheinander, verformt, zerbrochen und aus dem Gleichgewicht.
Hier«, sagte er und nahm ein großes, dickes Buch zur Hand, das er offenbar bereitgelegt hatte, »Katalog der Biennale in Venedig. Vor vier Jahren war dort eine Architekturausstellung, durch die man eine erste Ahnung von dem bekam, was sich da zusammenbraute. Thema: Die Präsenz der Vergangenheit.
Schau dir das an«, Herr Themaat schlug das Buch an einer Stelle auf, die durch einen Zettel markiert war. »Die Akropolis in einem Zerrspiegel.« Mit halbgeschlossenen Augenlidern reichte er Quinten das Buch.
War das ein Blick auf die Burg? Quintens Augen begannen zu glänzen. Wie schön! Es waren Bilder einer phantastischen Straße und eines Innenraums, die in einer überdachten Halle aufgebaut waren, Bilder von Dekorstücken von Giebeln unterschiedlicher Architekten; die Giebel waren völlig verschieden voneinander und gehörten doch zusammen, und das, obwohl jeder Giebel für sich aus Teilen bestand, die nicht zusammenpaßten und dennoch ein Ganzes bildeten. Während Themaat vermutete, Vitruvius würde der Schlag treffen, wenn er das sähe, und Palladio sich ausschütten vor Lachen, betrachtete Quinten einen seltsamen Portikus mit vier dicht zusammenstehenden Säulen: die erste war ein nackter Baumstamm, die zweite stand auf dem Modell eines Hauses, die dritte existierte nur noch zur Hälfte, zur oberen Hälfte, die frei in der Luft schwebte und trotzdem vorgab, den Architrav zu stützen, und die vierte war eine säulenförmig geschnittene Hecke; das Tympanon wurde durch einen Bogen aus blauem Neonlicht angedeutet. Alles war von einer märchenhaften Widersprüchlichkeit, die Disharmonie als Harmonie. Herr Themaat mochte zwar unterdessen behaupten, auch das sei die klassische Sprache, aber alle Wörter waren falsch geschrieben und die Syntax der reinste Augiasstall, wie von kleinen Kindern buchstabiert – Quinten erfüllte ein überwältigendes Glücksgefühl.
»Ich habe mir schon gedacht, daß dir das gefallen würde, Kuku«, sagte Themaat und wischte sich mit einem Taschentuch die Mundwinkel ab. »Für mich ist es ein Ende, eine Art Feuerwerk zum Abschluß eines großen Festes, das irgendwann einmal in Griechenland begonnen hat. Damals herrschte das ausgewogene Weltbild von Ptolemäus, in dem die
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