Die Entdeckung des Himmels
der Literatur und in der Musik kann es auch bald mal vorbei sein mit dem Modernismus, und in der Politik ebenso. Gropius, Picasso, Joyce, Schönberg, Lenin, die haben mein Leben beeinflußt, aber es sieht so aus, als würde das schon bald der Vergangenheit angehören.«
»Freud und Einstein auch?« fragte Quinten. Zu Hause hatte er diese Namen in ähnlichen Aufzählungen auch immer gehört.
»Das würde mich nicht wundern. Ich fühle mich in den letzten Jahren manchmal so, wie sich ein Anhänger der Gotik beim Aufk ommen des Klassizismus gefühlt haben muß.
All die prächtigen Kathedralen sind mit einem Schlag altmodisch geworden. Interessierst du dich eigentlich noch für solche Dinge?«
Quinten hatte das Gefühl, daß Themaat nicht mehr recht wußte, mit wem er eigentlich sprach, daß er auch ihn für einen pensionierten Professor hielt.
»Auf diese Weise habe ich mich nie dafür interessiert.«
»Auf welche Weise denn dann?«
Quinten überlegte. Sollte er ihm jetzt von der Burg in seinen Träumen erzählen? Aber wie konnte man einen Traum erzählen? Es klang immer komisch, obwohl es während des Träumens überhaupt nicht komisch war – und wenn man einen Traum erzählte, erzählte man nie das, was man geträumt hatte. Einen Traum zu erzählen, war unmöglich.
»Na ja«, sagte er. »Ich weiß nicht. Ich denke, daß Sie mir alles erzählt haben, was ich wissen wollte.«
Themaat sah ihn eine Weile an, stellte dann mühsam die Beine auf den Boden, setzte sich mit gebeugtem Rücken auf und legte seine flachen weißen Hände neben die Oberschenkel. Er schloß die Augen und öffnete sie erst nach einer Weile wieder. »Soll ich dir noch eine Sache erzählen, die du vielleicht noch nicht weißt?«
»Gerne.«
»Vielleicht denkst du: so ein Unsinn, Gerede eines kranken, alten Mannes, aber ich werde es dir trotzdem erzählen. Wie kommt es, habe ich mich oft gefragt, daß diese ideale griechisch-römische Architektur und die Architektur der Renaissance in den unmenschlichen Gigantismus von Boullée übergehen konnten? Und wie konnte das später, bei Speer, sogar zum Ausdruck des Völkermords werden?«
»Sie haben einmal gesagt, daß das etwas mit Ägypten zu tun hat. Mit den Pyramiden. Mit dem Tod.«
»Das stimmt auch, aber wie konnte die Architektur etwas damit zu tun bekommen?«
»Wissen Sie es denn?«
»Ich glaube, daß ich es weiß, Kuku. Und du sollst es auch wissen. Es hat etwas mit dem Untergang der Musik zu tun.«
Erstaunt sah Quinten ihn an. Die Musik? Was hatte denn die Musik plötzlich mit der Architektur zu tun? Für einen Augenblick schien es, als legte sich ein leichtes Lächeln über die Maske von Herrn Themaats Gesicht.
Die humanistischen Architekten wie Palladio, sagte er, ließen sich bei ihren Entwürfen nicht nur von Vitruvius’ Entdeckung des Quadrats und des Kreises leiten, die die Proportionen des göttlichen menschlichen Körpers bestimmten, sondern auch von der Entdeckung des Pythagoras im sechsten Jahrhundert vor Christus: daß nämlich die harmonischen Intervalle sich wie einfache ganze Zahlen verhielten.
»Wenn man eine Saite berührt und die Oktave des Tones hören will, muß man die Länge der Saite halbieren – der absolut harmonische Zusammenklang eines Tones und seiner Oktave wird bestimmt von einem sehr einfachen Verhältnis: eins zu zwei. Bei der Quinte ist es zwei zu drei und bei der Quart drei zu vier. Daß dieses ebenso einfache wie phantastische eins zu zwei zu drei zu vier die Grundlage der musikalischen Harmonie ist und die gesamte Musiklehre daraus abgeleitet werden kann, hat Platon hundertfünfzig Jahre später einen solchen Schock versetzt, daß er in seinem Dialog Timaios einen Demiurgen das kugelförmige Weltgebäude inklusive der menschlichen Seele nach den musikalischen Gesetzen erschaffen ließ. Anderthalb Jahrtausende später wirkt sich das in der Renaissance immer noch aus. Die Baumeister damals hatten erkannt, daß die musikalischen Harmonien einen räumlichen Ausdruck hatten, nämlich die Verhältnisse der Saitenlängen, und räumliche Verhältnisse waren nun mal ihre Angelegenheit. Da sowohl die Welt als auch der Körper und die Seele vom Welten-Baumeister nach den musikalisch-harmonischen Gesetzen komponiert worden waren, Makrokosmos ebenso wie Mikrokosmos, mußten sie sich bei ihren eigenen architektonischen Entwürfen ebenfalls von den Gesetzen der Musik leiten lassen. Palladio hat daraus ein äußerst nuanciertes System entwickelt. Und dann ist
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