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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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dich nicht mehr jeden Tag sehen werden, Q. Q. Du bist ein Teil unseres Lebens geworden, und eigentlich warst du auch ein bißchen unser Kind. Ich hoffe, daß es dir sehr gut ergehen wird im Leben, aber da habe ich eigentlich keine Bedenken. Gib nur gut auf dich acht. Versprichst du mir, daß du gut auf dich achtgeben wirst?«
    »Ja, Herr Spier.«
    »Besuche uns doch mal in Pontrhydfendigaid, wenn du in England bist – oder in Wales, sollte ich eigentlich sagen.«
    Quinten ging mit seiner Blockflöte zum Weiher, in die Umarmung der Rhododendren. Unbenutzt lag das Instrument den ganzen Nachmittag in seinem Schoß; als es dämmerte, blieb er vor seiner Hütte sitzen. Es war ein bedeckter Frühlingstag, es ging kein Wind, und durch das ölig glänzende Wasser zog ab und zu das Spiegelbild eines Vogels.
    Nun waren auch Herr und Frau Spier aus seinem Leben verschwunden. Die Judith. Die Quadrata. Pontrhydfendigaid – ob sein Vater vielleicht auch dort war? Er fühlte sich elend.
    Warum gab es eigentlich etwas, und nicht nichts? Wenn alles sowieso vorüberging, was hatte es dann für einen Sinn, daß es je dagewesen war? War es dann eigentlich dagewesen? Wenn es eines Tages keine Menschen mehr geben würde, niemanden mehr, der sich noch an etwas erinnern konnte, konnte man dann sagen, daß jemals etwas geschehen war? Konnte man jetzt sagen, um dann sagen zu können, um sagen zu können, daß etwas passiert sei, obwohl es dann niemanden mehr geben würde, der etwas sagen könnte? Nein, dann wäre ja tatsächlich nie etwas passiert – während es doch passiert war.
    Er wußte, daß er mit Max über solche kniffligen Dinge sprechen konnte; aber da er nicht mit seinem Vater darüber sprechen konnte, wollte er es auch nicht mit Max tun. Er mußte an die Gedenkstätte denken, die letztes Jahr beim Lager Westerbork eingeweiht worden war und die er mit Max und Oma besichtigt hatte. Auf großen Bildern und auch in einem Film sah man Menschen unter der Aufsicht von Männern wie Nederkoorn in die Viehwaggons steigen, auf dem Transport zu ihrem Tod. Er hatte gesehen, wie Max sich vorgebeugt hatte, um alle Gesichter genau zu sehen, natürlich in der Hoffnung, seine Mutter zu entdecken. Es gab Frauen, von denen man nur den Hinterkopf sah. Alle tot. Das konnte ja wohl nie nicht passiert sein! Max hatte ihm erzählt, es gebe heutzutage Bewunderer Hitlers, die behaupteten, all diese Filme seien Betrug, alles das sei nie passiert, aber warum bewunderten sie ihn dann? Die sagten dann doch eigentlich, daß Hitler ein Versager war, dem nicht gelungen war, was er angekündigt hatte.
    Feine Bewunderer! Hitler hätte sie sofort an die Wand gestellt.
    Aber dennoch – diese Menschen konnten sagen , daß es nicht passiert sei, während es doch passiert war, das könnte man mit dem Historioskop beweisen, aber wenn es eines Tages keine Menschen mehr geben würde und folglich keiner mehr sagen könnte, daß es passiert war, wie konnte es dann nicht nicht passiert sein? Dieser Fisch dort, der kurz sein Maul aus dem Wasser steckte, so daß ein sich fortpflanzender Kreis wie ein immer größer werdender Heiligenschein entstand, hatte er das wirklich bis in alle Ewigkeit getan? Und er selbst, er saß jetzt hier, sollte er jemals hier nicht gesessen haben? Saß er hier also eigentlich wirklich? Gab es überhaupt etwas? Vielleicht sollte man lieber sagen, daß die Welt existierte und nicht existierte. Ähnlich wie die Burg. Und auch er selbst: es gab ihn, und es gab ihn nicht. Da war ja wohl das eine wie das andere nichts wert. Was hatte er in so einer idiotischen Welt eigentlich zu suchen? Was sollte er hier?

    Als er nach Hause kam, waren Herr und Frau Spier abgereist, Korvinus ging bereits mit einem Zollstock durch die leeren Räume, und einen Monat später wohnte er selbst in der Wohnung. Von dem Moment an war es, als habe das Schloß Schlagseite wie ein torpediertes Schiff.
    Keiner wagte je nachzusehen, auch nicht zufällig, wie Nederkoorn auf dem Dachboden wohnte. Max meinte, er schliefe unter einer Hakenkreuzfahne, mit einem Porträt von Himmler über dem Bett. Auf Max’ und Kerns Etage war auf den ersten Blick alles unverändert, aber unten war Spiers Empire durch Eichenmöbel ersetzt worden, die so massig und innendrin wahrscheinlich mit Beton ausgegossen waren, daß Korvinus laut Kern froh sein konnte, wenn nicht alles durch den Boden brach und in den Keller stürzte. Da Nederkoorn seiner Frau ausdrücklich verboten hatte, mit den Mitbewohnern

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