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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Erde im Mittelpunkt des Weltalls ruhte; während des Humanismus kam dann das von Kopernikus, mit der Sonne im Mittelpunkt, und danach das unendliche All des Giordano Bruno, das überhaupt keinen Mittelpunkt mehr hatte. All diese Universen waren ewig und unveränderlich, aber seit kurzem leben wir in dem explosiven, gewalttätigen All deines Ziehvaters, das plötzlich einen Anfangspunkt hat. Und von da bekommt man dann so ein postmodernes Spektakel serviert, und alles zerplatzt in Stücke und Brocken. Alles explodiert, die Weltbevölkerung eingeschlossen, und das hat natürlich unmittelbar mit dieser irrsinnigen Entwicklung der Technik zu tun. Plötzlich ist eine ganz andere Zeit angebrochen, die ich zum Glück nicht mehr zu erleben brauche.«
    Nachdenklich sah Quinten aus dem Fenster.
    »Aber ein Anfangspunkt ist doch auch eine Art Fixpunkt?
    Was ist fester als ein Anfangspunkt? Das müßten Sie doch eigentlich für einen Fortschritt im Hinblick auf das vorige All halten, das keinen Mittelpunkt mehr hatte.«
    »Ja«, sagte Themaat, »so kann man das natürlich auch sehen.«
    »Da fällt mir übrigens ein Satz von Max dazu ein: Der Mensch ist ungefähr um so viel kleiner als das All, wie das kleinste Teilchen kleiner ist als der Mensch.«
    Für einige Sekunden fixierte Themaat ihn mit großen, starren Augen.
    »Also doch? Steht er also doch in der Mitte? Das hätten sie wissen müssen.«
    »Wer?«
    »Nun, Platon, Protagoras, Vitruvius, Palladio – alle.« Umständlich legte sich Themaat wieder hin, und es blieb eine Weile still. »Ich muß in den letzten Wochen ständig an die Musik denken, Kuku. Die platonische Harmonie der Sphären ist schon seit Newton aus der Welt verschwunden, so wie die Harmonie der Musik mit Schönberg, zur Zeit Einsteins. Aber wie diese verflixten Säulen in dem Katalog ist auch die Tonalität im Augenblick dabei, zurückzukehren – nur ist die Musik inzwischen von einem Segen zu einer Plage geworden. Wir haben es hier noch relativ ruhig, hier bellen nur Hunde, aber in der Stadt gibt es kein Entrinnen mehr, überall ist Musik, bis hin zu den Aufzügen und Toiletten; aus den Autos dröhnt Musik, und auf den Gerüsten stellt jeder Bauarbeiter sein tragbares Radio so laut, wie es eben geht. Überall ist es jetzt so wie früher auf der Kirmes. Aber all diese harmonische Musik zusammen ist eine einzige Kakophonie, neben der Schönbergs Dodekaphonie harmlos klingt. Und diese allgegenwärtige Kakophonie ist es auch, die diese neumodische kakophonische Architektur zum Ausdruck bringt. Die Bombe, von der du einmal gesprochen hast, ist nämlich explodiert. Das wollte ich dir noch sagen, aber vielleicht solltest du es besser gleich wieder vergessen. Ich bin müde, ich glaube, ich werde jetzt kurz die Augen zumachen.«
    Themaats Vortrag hatte Quinten berührt: es hatte alles ein wenig wie ein Testament geklungen. Mit einem Mal hatte er wieder so viele neue Dinge erfahren, daß er es noch nicht fassen konnte. Als er, nachdem er sich verabschiedet hatte, leise die Treppe hinaufging, überlegte er sich, daß es immer noch viel mehr über die Welt zu erfahren gab, als er wußte. Natürlich konnte man nicht alles wissen, und das war auch nicht nötig, aber viele Leute wußten vermutlich nicht einmal, was es alles zu wissen gab. Sie lebten und starben, ohne daß ihnen jemals irgend jemand erzählt hatte, daß es auch noch dieses und jenes zu wissen gab, was sie vielleicht gerne gewußt hätten. Aber wenn man einmal tot war, was machte es dann noch für einen Unterschied? Dann hätte man genausogut nie geboren sein können. Die meisten Menschen wollten vielleicht gar nichts wissen, sondern nur reich werden oder viel essen oder sich Fußballspiele ansehen oder irgend etwas anderes. Oder sich küssen.
    In seinem Zimmer blieb er unentschlossen stehen und sah auf den schwarzen Cellokasten seiner Mutter, der an die Wand gelehnt stand. Er hatte ihn noch nie geöffnet; er hatte immer das Gefühl gehabt, es wäre nicht richtig, es einfach aus Neugierde zu tun. Aber wenn je der Augenblick gekommen war, dann jetzt. Vielleicht war es jetzt sogar das erste Mal seit sechzehn Jahren, daß wieder Licht auf das Instrument fallen würde.
    Aber nein, sein Vater hatte bestimmt einmal hineingeschaut.
    Vorsichtig legte er den Kasten auf den Boden, kniete sich davor, öffnete die beiden Schlösser und hob langsam den Deckel.
    Obwohl er wußte, daß sich darin das Cello befand, war der Anblick dennoch ein Schock. Matt und staubig

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