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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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noch, dann bist du achtzehn; danach kannst du ja immer noch entscheiden, ob du studieren willst oder nicht.
    Aber wenn du jetzt aufgibst, dann ist diese Möglichkeit vertan.«
    »Ich werde Papa suchen gehen«, sagte Quinten.
    Seine Großmutter tat ihm leid. Um die Fassung zu wahren, stand sie auf, wischte Krümel und Brotreste vom Tisch in die Hand und warf sie über die Brüstung, was in der Tiefe sofort ein höllisches Geschnatter entfesselte. Auch sie war allein.
    Ihre Tochter war von einem schrecklichen Unglück und ihr Wohngefährte von einem Meteoriten getroffen worden, und jetzt wollte ihr Enkel sie auch noch verlassen. Was sollte sie nun weiter tun? In einigen Monaten würde sie obendrein auf der Straße stehen, und das nicht nur mit ihren Sachen, sondern auch mit denen ihrer Tochter und von Max. Er ging auf sie zu, legte die Hände auf ihre Schultern und küßte sie auf die Stirn, wobei ihm ein merkwürdiger, süßsaurer Duft in die Nase stieg. Sie drückte ihre Stirn gegen seine Brust, was ihn an Gijs, den Ziegenbock von Verdonkschot, erinnerte. Als sie das Gesicht hob, war es naß von Tränen. Zum ersten Mal sah er sie weinen.
    »Oma!«
    »Ach, schon gut. Wann willst du gehen?«
    »So bald wie möglich.« Erst als er das sagte, wurde es auch für ihn endgültig.
    Sophia hatte sich schon wieder in der Gewalt.
    »Aber wohin denn, Quinten? In welche Richtung? Du kannst doch nicht einfach in den nächstbesten Zug steigen?«
    »Vielleicht ist auch das eine Methode. Aber ich werde morgen zuerst zu dem Anwalt von Papa gehen. Der weiß doch, wo er steckt?«
    »Aber er wird es dir nicht sagen. Das unterliegt dem Berufsgeheimnis.«
    »Zumindest kann ich es versuchen. Vielleicht gibt er doch etwas preis, oder vielleicht entwischt ihm was, das mich weiterbringt. Und könnte es sein, daß eventuell auch Tante Dol mehr weiß, als wir ahnen? Vielleicht sollte ich sogar als erstes zu ihr fahren.«
    Mit geröteten Augen sah Sophia ihn an. Wieder konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten; sie setzte sich, hielt die Hände vors Gesicht und sagte mit hoher, fast singender Stimme:
    »Quinten – es wird etwas Schreckliches passieren, wenn du gegangen bist.«
    So hatte er sie noch nie erlebt. Ratlos setzte er sich ihr gegenüber.
    »Wie kommst du denn darauf?«
    »Ich weiß es nicht –«, flüsterte sie und zuckte die Schultern, »ich spüre es.«
    »So ein Unsinn! Keiner weiß, was geschehen wird. Ich bin vielleicht für ein paar Monate weg und halte dich über alles auf dem laufenden. Danach kann ich ja auch wieder die Schule besuchen. Und sonst mache ich das Abitur eben über den zweiten Bildungsweg.«
    Er glaubte nicht, was er sagte, und sah, daß Sophia es ebensowenig glaubte. Mit einer Serviette vor den Augen blieb sie noch einen Moment sitzen und ging plötzlich mit abgewandtem Gesicht ins Haus.
    Quinten betrachtete die Apfelschale auf ihrem Teller: eine lange, ununterbrochene Spirale. Man könnte sie beliebig lang machen, überlegte er, fast unendlich lang, wenn man nur schmal genug schälte. Er atmete die milde Luft tief ein. Es war vorbei, eigentlich war er schon nicht mehr hier; aber zugleich schien ihm, als ob durch dieses Bewußtsein alles intensiver würde – wie an Weihnachten die heruntergebrannten Kerzen am Baum, die zum Schluß noch einmal aufflackerten und dann erloschen. Max hatte ihn an Heiligabend immer auf sein Zimmer geschickt, bis der Baum geschmückt und die Kerzen angezündet waren. »Du kannst kommen!« Aus dem harten elektrischen Licht seines Zimmers in das warme Kerzenlicht – die Erinnerung kam ihm vor wie aus einer weit entfernten Vergangenheit. Er stand auf und ging zur Brüstung. Tief im Wald rief eine Eule. Auf einer kleinen künstlichen Insel auf der anderen Seite hatten die unermüdlichen Bleßhühner ein neues Nest gebaut, um das Enten und Schwäne einen ehrfürchtigen Bogen machten. Daß seine nicht gerade sentimentale Großmutter jetzt plötzlich so weinen mußte! Aber sollte er deshalb dableiben? Sollte er sie jetzt versorgen, wie sie ihn all die Jahre versorgt hatte? Sein Entschluß stand fest, er würde gehen. Er mußte seinen Vater suchen. Tief in sich spürte er die unerschütterliche Gewißheit, daß ihn nichts und niemand davon abbringen konnte.
    »Quinten?«
    Durch Max’ Schlafzimmer, wo dessen gemachtes Bett bereits zu einem Museumsstück erstarrt war, ging er in das von Sophia. Sie kniete auf dem Boden vor einer geöffneten Kommodenschublade. In den Händen hielt sie

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