Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
mit Punkten, Streifen und Bändern verziert. Er beschloß, die schönen Selma und die mit den sich beißenden Farben Sophia zuzuordnen.
    Schweigend schauten ihm die anderen zu. Nachdem er die Eier schließlich nach Personen geordnet hatte, sagte Kern: »Du brauchst eigentlich gar nichts mehr zu sagen.« Er sah sich die Eier eine Weile an, hob den Blick und sagte zu den beiden Frauen: »Das ist von unserer Gemeinschaft geblieben.«
    Im selben Augenblick wußte Quinten, daß das die Wahrheit war. Nach dem Tod von Max waren nur noch diese drei alten Leute übrig, von denen seine Großmutter mit ihren zweiundsechzig Jahren die jüngste war. Oben saß Nederkoorn, unten Korvinus, und bald würde alles zu Ende sein. Was sollte er hier eigentlich noch länger? Alles um ihn herum war weggeschlagen worden, alle waren tot, abgereist, unerreichbar, sogar Kerns Taubenkäfige waren seit einem halben Jahr leer. Plötzlich stand er auf und ging ohne ein Wort auf sein Zimmer.
    Er stellte das Bronzekästchen auf den Tisch und öffnete es.
    Da der Schlüssel des Hängeschlosses eines Tages zwischen den lockeren Ziegelsteinen hinter dem Ölofen verschwunden war, hatte er eine kräftige Büroklammer zurechtgebogen und dank der Stunden bei Piet Keller im Handumdrehen einen Dietrich daraus gemacht. Vorsichtig entfaltete er den Brief seines Vaters und las den letzten Satz, obwohl er nicht anders lautete, als er sich erinnerte: Vergib mir und suche mich nicht, denn Du wirst mich nicht finden. Daß er ihn nicht suchen sollte, war also nicht unbedingt als sein letzter Wunsch zu interpretieren! Es stand eigentlich nichts davon da, daß er es nicht wollte, sondern lediglich, daß Quinten sich die Mühe sparen konnte, da es zwecklos sei. Er betrachtete den Cellokasten seiner Mutter. Jetzt war er sich ganz sicher. Er würde gehen. Er wollte seinen Vater suchen.

    »Aber wo willst du denn suchen?« fragte Sophia am nächsten Morgen beim Frühstück. »Er kann doch überall sein. Weißt du eigentlich, wie groß die Welt ist?«
    »Er ist auf jeden Fall auf der Erde. Das schließt zunächst einmal eine Menge anderer Orte aus.«
    »Das stimmt«, sagte Sophia. Lächelnd schüttelte sie den Kopf und sah ihn an. »Du hast ihn schon fast gefunden, stimmt’s?«
    »Ja«, nickte Quinten und erwiderte ihren Blick, jedoch ohne zu lächeln.
    Sie saßen auf dem Balkon. Es war der erste milde Frühlingsmorgen in diesem Jahr, und unten im Schloßgraben feierten die Enten ausgiebig den Wechsel der Jahreszeiten.
    »Aber angenommen, du findest ihn, und er will nichts von dir wissen? Ist dir eigentlich klar, was mit ihm passiert ist? Er ist anders geworden. Ich dachte zuerst auch, daß das alles halb so schlimm wäre und er wieder auftauchen würde, aber es ist jetzt schon vier Jahre her. Er weiß doch, wo er dich erreichen kann, hat es aber noch nie versucht!«
    »Wenn er mich sieht und dann immer noch nichts mit mir zu tun haben will, weiß ich es wenigstens. Dann ist er wirklich ein anderer geworden, wie du gesagt hast, und ein anderer interessiert mich nicht. Ein anderer ist nicht mein Vater.
    Dann ist der Fall erledigt.«
    »Und die Schule«, fragte Sophia, ohne von dem Apfel aufzublicken, den sie gerade schälte, »wie steht es damit?«
    »Ich weiß genug. Die wichtigsten Dinge habe ich ohnehin nicht in der Schule gelernt.«
    »Meine Güte, Quinten, du gehst jetzt in die zwölfte Klasse und hast es bald geschafft, noch ein Jahr, und du hast dein Abitur. Es könnte ja sein, daß es dir eines Tages schrecklich leid tut, daß du die Schule nicht zu Ende gemacht hast? Und zwar für den Rest deines Lebens. Du willst doch studieren, nehme ich an?«
    Quinten sah auf die kahlen Bäume auf der anderen Seite.
    Jetzt konnte er noch quer durch den Wald schauen, bald würde dort wieder eine undurchdringliche Wand sein. In der Ferne fuhr ein Auto in Richtung Westerbork. Auch sein Vater hatte ihn einmal gefragt, was er »werden« wolle. »Architekt«, hatte Max damals gesagt, aber die Vorstellung, für den Rest seines Lebens dies oder jenes zu machen, und nichts anderes, kam ihm immer noch idiotisch vor.
    Um Sicherheit und geordnete Verhältnisse sollten sich besser andere kümmern. Auf ihn wartete etwas anderes, das und nur das war seine Sicherheit, vor einem halben Jahr auf der Weide bei Klein Rechteren hatte er das ganz deutlich gespürt.
    »Ich glaube nicht«, sagte er.
    Sophia versuchte es noch einmal.
    »Nächsten Monat wirst du erst siebzehn. Mach doch dieses eine Jahr

Weitere Kostenlose Bücher