Die Entdeckung des Himmels
betrunken, und zweitens saß in der Gebärmutter noch die Spirale. Er machte die Tür auf und blieb mit der Klinke in der Hand stehen. Wo war Onno? Wer war Onno geworden? Wie war es möglich, daß er sich ganz und gar von dem Kind zurückziehen konnte? Und der arme Quinten – wer war für ihn jetzt weiter weg, seine Mutter oder sein Vater?
Das Haus war dunkel, und der Garten lag still im Mondlicht. Janáček, dachte er. Ein Märchen. Er zwang sich, nicht zu sehr zu torkeln, ging zum Findling und setzte sich, um eine Pause einzulegen. War es Unsinn, was er sich da zusammengesponnen hatte? Hatte der VBLI wirklich die Ursingularität gesehen, vielleicht sogar quer hindurchgeschaut in eine andere, zeitlose Welt, die größer war als das All? Hatte er etwas vergessen? Wie betrunken war er eigentlich? Wie konnte bewiesen werden, daß das alles nicht so war? Und wenn es so war, mußte dann nicht auf jeden Fall eine gigantische Rotverschiebung aufgetreten sein – die so groß war, daß keiner daran dachte? Das Maximum, das bisher gemessen worden war, beim OQ 172, hatte einen Wert von 3.53 gehabt; dort war die Lyman-Linie in das sichtbare Licht geraten. Bei MQ wurde jetzt irgendwo zwischen 4 und 5 gesucht, aber vielleicht mußte man auf 20 gehen oder auf 50. Oder auf 100! Wer nur bis fünf zählen konnte, würde dort nie suchen, nicht einmal Maarten. Wo war man mit einer solchen Rotverschiebung? Er versuchte es auszurechnen, irgendwo im Kurzwellenbereich vermutlich. Vielleicht hatte irgendein Funkamateur einmal eine singulare Stimme aufgefangen: »Ich bin der Herr dein Gott!« und dann gelangweilt weitergedreht, weil er geglaubt hatte, es mit einem Äthersonderling zu tun zu haben! Das war offenbar kein zweiter Moses gewesen!
Max hob die Arme, legte den Kopf in den Nacken und begann laut zu lachen.
Der dröhnende Knall, mit dem im selben Augenblick ein blendendweißer Feuerball wie eine Rakete aus dem Himmel den Stein traf, auf dem er saß, versengte alle Bäume und Pflanzen im Garten, zersplitterte die Fenster von Tsjallingtsjes Haus, die Vorhänge fingen Feuer, und schreckte das ganze Dorf aus dem Schlaf. Überall begannen Hunde zu bellen, Hähne krähten, in Panik wurden in der ganzen Umgebung Lichter angemacht, und aus den Fenstern riefen die Leute einander zu, daß es ganz nach einer Gasexplosion geklungen habe. Am nächsten Tag stellte man fest, daß sogar Teile des Findlings verdampft waren. So kam Max schließlich doch noch in die Weltpresse, wenn auch nicht aufgrund seiner kosmologischen Vermutungen, denn die blieben unbekannt, sondern dank des unglaublichen Zufalls, daß er genau an der Stelle gesessen hatte, wo er gesessen hatte. Vermutlich teilte er sein Schicksal nur mit einem Franziskanermönch aus dem siebzehnten Jahrhundert in Mailand. Der Volltreffer hatte von dem unglückseligen Astronomen weniger übriggelassen als das Aufeinanderschlagen zweier Feuersteine von einer Ameise. Fachleute gingen davon aus, daß der Meteorit faustgroß gewesen sein mußte. Es wurden jedoch nur winzige Fragmente gefunden, aus denen man schloß, daß es sich vermutlich um einen Steinmeteoriten gehandelt habe, einen Achondriten, der gut vier Milliarden Jahre alt sei und vermutlich aus dem Gebiet zwischen Mars und Jupiter stamme. Nach internationalem Brauch wurde der Himmelskörper nach dem nächstliegenden Postamt benannt:
Der Westerbork.
50
Der Entschluß
Vier Tage später wurde bei der Beerdigung auf dem Friedhof Westerbork Janáčeks Märchen gespielt. Quinten wagte nicht zu fragen, was sich in dem Sarg befand, der in die Erde eingelassen wurde. Eingekeilt zwischen Astronomen und Technikern, sah er Sophia Arm in Arm mit Tsjallingtsje am Grab stehen.
Zu Ostern wurden Sophia und er von Theo und Selma Kern zum Essen eingeladen. Sophia hatte den Wein besorgt, und als sie um eine große Schüssel Pot au Feu mit Meerrettich saßen, unterhielten sie sich über das riesige Osterfeuer, das der Baron früher jedes Jahr auf dem Gelände bei Klein Rechteren angezündet hatte. Kern meinte, der Grund dafür, daß diese Tradition nach seinem Tod von niemandem fortgesetzt worden sei, liege darin, daß es in der Gegend keinen Landadel mehr gebe, der sei nur noch weiter südlich zu finden, in Overijssel und in Gelderland. Gevers sei sozusagen der nördlichste Edelmann gewesen. Da die alte Baronin unlängst mit Rutger und seinem Vorhang von gut hundert Quadratmetern zu ihrer Tochter nach Den Haag gezogen sei, die dort einen gutgehenden
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