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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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einen winzigen Kompaß, der viel kleiner war als der auf Max’ Schreibtisch, er hatte keine zwei Zentimeter Durchmesser.
    »Nimm das hier mit«, sagte sie und hatte in den Augen schon wieder ihren kühlen, reservierten Blick. »Er hat deinem Opa gehört. Er trug ihn immer bei sich, wenn wir in der Heide spazierengingen, in den Jahren nach dem Krieg. Die Heide war damals noch groß.«
    Der Zeiger war blockiert, aber nachdem Quinten einen Stiftverschoben hatte, kam er wackelnd in Bewegung: er funktionierte noch. Durch den Ring war ein schwarzlederner Schnürsenkel gezogen, und ohne etwas zu sagen, ließ er sich das Instrument von Sophia um den Hals legen. Erleichtert stellte er fest, daß sie sich offenbar mit seiner Abreise abgefunden hatte.
    Er hatte Opa Brons nie gekannt, und für sein Gefühl gehörte er eher zur Historie als zu ihm, wie das meiste in der überfüllten Schublade. Obwohl sie nicht abgeschlossen war, hatte er nie darin gestöbert; er wollte auch nicht, daß jemand seine Nase in seine eigenen Sachen steckte. Er bückte sich und nahm aus dem Durcheinander von Fotos und Briefen, Mappen, Puppen, Mädchenbüchern und einem Plüschkaninchen eine gelbe Karte.
    »Meldeschein« , las er, »wie in Artikel 9, Absatz 1, der Verordnung Nr. 6/1941 des Reichskommissars für das besetzte niederländische Gebiet, hinsichtlich der Meldepflicht von Personen ganz oder teilweise jüdischen Blutes.« Er drehte es um. »Haken, Petronella. Anzahl der jüdischen Vorfahren im Sinne des Paragraphen 2 der Verordnung: eins.« Fragend sah er Sophia an.
    »Das hat meiner Mutter gehört«, sagte sie. »Ihre Großmutter mütterlicherseits war jüdisch.«
    »Das heißt –«, sagte Quinten.
    »Ja, daß auch du jüdisches Blut hast.«
    »Das hast du mir nie erzählt!«
    »Es ist auch kaum der Rede wert. Rechne es aus.«
    »Meine Urgroßmutter ein Viertel, du ein Achtel, Mama ein Sechzehntel, und ich ein Zweiunddreißigstel.« Er legte die Karte wieder hin und sagte: »Nein, das ist tatsächlich nicht viel. Wußte Max das?«
    »Ich habe, ehrlich gesagt, nie mehr daran gedacht.«

    Sein Onkel und seine Tante konnten nur wiederholen, sie hätten nicht die leiseste Ahnung, wo Onno sei. Als einzige aus der Familie hatte auch Dol seinerzeit einen Brief von ihm bekommen, und danach hatte auch sie nichts mehr von ihm gehört; er hatte weder über sie noch auf irgendeinem anderen Weg etwas von seinen eingelagerten Sachen haben wollen. Nur einmal – und das sei jetzt auch schon wieder anderthalb Jahre her – habe Giltay Veth ihnen geschrieben, Onno bitte darum, daß die Urkunde seiner Ehrendoktorwürde nach Uppsala zurückgeschickt werde. Das hätten sie getan, sagte Tante Dol, obwohl sie den Grund dafür nicht wüßten, und der Anwalt übrigens auch nicht.
    Es war ihr letzter Tag im Villenvorort von Rotterdam, sie waren mitten im Umzug und empfingen ihn zwischen Tür und Angel. Sein Onkel Karel, der Chirurg, hatte die Messer endgültig aus der Hand gelegt, sie wollten nun nach Menorca ziehen und ihren Zweitwohnsitz zum ständigen Domizil machen; Quinten war während der Sommerferien einige Male dort zu Besuch gewesen. In dem ausgeräumten vorderen Zimmer saßen sie auf zugenagelten Kisten und tranken Mineralwasser aus Plastikbechern, und das Gespräch, das er mit Sophia geführt hatte, wiederholte sich: das Abbrechen der Schule, ob das nicht unklug sei, ob er sich auch ganz sicher sei, daß es vernünftig sei, was er tun wolle, und wo er um Himmels willen anfangen wolle zu suchen. Er bekam das Gefühl, daß Onno schon fast aus ihrem Leben verschwunden war.
    Seine Sachen waren schon vor einigen Wochen von einer Spedition abgeholt und in einem Speicher im Hafengebiet eingelagert worden. Sophia hatte davon gewußt, ihn aber offenbar mit dieser Nachricht nicht belasten wollen. Als er auf den Zug nach Amsterdam wartete, klang in seinem Kopf ununterbrochen der Ausdruck nach, den sein Onkel für seinen Vater gebraucht hatte: drop out.
    Im Foyer der Anwaltskanzlei hinter dem Rijksmuseum stand Mr. J. C. G. F. Giltay Veth inmitten einer langen Reihe anderer Namen. Giltay Veth holte ihn persönlich ab: ein dicker, freundlicher Mann Anfang Fünfzig, der auf der Nasenspitze eine kleine Lesebrille trug. Im Aufzug zum oberen Stockwerk erzählte er, er kenne Quintens Vater schon seit seiner Studentenzeit. Obwohl Onno mit seinen Bemerkungen immer hart ausgeteilt habe, habe er seitdem nur noch selten so gelacht wie damals mit ihm. Von seinem Büro aus

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