Die Entdeckung des Himmels
vorkommt.«
Während sein nachtschwarzer Besuch durch das Zimmer, über Stühle und durch die Unordnung unter dem Bett hüpfte, krächzte und keckerte er ununterbrochen, und Onno hatte den Eindruck, als ob er länger bliebe, wenn er viel mit ihm redete. Von da an machte er es sich zur Gewohnheit, mit dem Raben zu sprechen. Am Anfang fiel ihm das schwer, denn außer ein paar Wörtern in einem Geschäft, einem Restaurant oder auf der Bank hatte er seit vier Jahren nichts mehr gesagt.
Aber da das Sprechen ebenso schwer zu verlernen war wie das Radfahren oder das Schwimmen, hätte Onno wahrscheinlich eher das Radfahren verlernt als das Sprechen; schwimmen konnte er nicht.
»Du fragst dich natürlich, was ich hier die ganze Zeit mache. Das werde ich dir sagen, Edgar. Ich schreibe einen Brief an meinen Vater. Es ist allerdings ein ziemlich merkwürdiger Brief, denn selbst wenn ich ihn zu Papier bringe, werde ich ihn nicht abschicken können. Kafk a hat auch einmal einen Brief an seinen Vater geschrieben, Max hat ihn mir einmal vorgelesen, vor langer Zeit, in wunderbar harmlosen Tagen, aber der arme Franz-Josef k.u.k. hat sich nie getraut, ihn einzuwerfen.
Mein Problem ist ernster, denn wie lautet die Adresse eines Toten? Vielleicht weißt du das, als schwarzer Vogel, schade, daß du es mir nicht sagen kannst. Aber gerade weil es unsinnig ist, diesen Brief zu schreiben, will ich es tun. Da schließlich alles unsinnig ist, das ganze Leben und die ganze Welt, macht nur noch das Unsinnige einen gewissen Sinn. Verstehst du das?
Wenn alles absurd ist, so ist innerhalb dieses Absurden ausschließlich das Absurde nicht absurd! Stimmt’s, oder hab ich recht? Hast du schon mal von Camus gehört? Camus war ein Philosoph des Absurden und ist bei einem absurden Autounfall ums Leben gekommen. Für viele Menschen war das eine Bestätigung für seine These, daß alles absurd ist. Aber für einen Philosophen des Absurden ist ein absurder Tod natürlich ein äußerst sinnvolles Ende! Denk mal darüber nach! Alles ist noch viel absurder, als er gedacht hat. Und du willst jetzt natürlich auch wissen, was ich meinem Vater absurderweise mitzuteilen habe. Es geht um die Macht. Ich habe mir in den letzten Jahren einige Dinge zurechtgelegt, zu denen ich sein Urteil hören möchte. Das Ganze ist ziemlich sinister, wobei du das Wort sinister nicht mit ›links‹ übersetzen darfst, sondern im politischen Sinne eher mit ›rechts‹: dann bekommt man dexter. Ein weiterer Unterschied zu Kafka ist, daß es mir nicht gelingt, meine Auffassungen in eine Ordnung zu bringen. Es wird kein ordentliches Nacheinander, sondern bleibt ein chaotisches Nebeneinander. Wenn ich früher einen Artikel oder eine Rede geschrieben habe, wissenschaftlich oder politisch, dann kam es mir immer vor, als wären meine Gedanken numeriert, so daß ich auch immer gleich die folgenden Sätze im Kopf hatte. Aber diese herrliche Fähigkeit habe ich eingebüßt. Jetzt habe ich eher das Gefühl, ein Puzzle zusammenlegen zu müssen, das so groß ist wie das Zimmer, und alle Teilchen sind gleichmäßig weiß – oder nein, so schwarz wie du, Edgar. Sieh dir das an! Tausende von Notizen. Sehr persönliche, über Koos und Dorus und Bart Bork, aber auch ganz allgemeine, wie Macht möglich ist, und ich weiß nicht, was sonst noch alles. Jeden Tag wird dieser Berg höher, aber glaubst du, ich komme damit meinem Ziel näher? Mit jeder Notiz entferne ich mich weiter davon! Dieses Zeug hat den Charakter eines Baumes, der sich unaufh örlich verzweigt, austreibt und weiter wächst, während ich gerade den Stamm zu finden versuche und die Stelle, an der er aus dem Boden wächst. Jedesmal, wenn ich mit dem Brief anfangen will, muß ich zuerst all diese Notizen wieder durchlesen, um in Fahrt zu kommen, aber es führt nie zu einem ersten Satz, sondern immer nur zu neuen Notizen. Viele sind inzwischen schon wieder unleserlich geworden – weil sie in der Sonne gelegen haben oder weil ich Kaffee oder Cola darüber verschüttet habe oder weil sie mit Marmelade verklebt sind oder du dein alles verätzendes Geschäftchen darauf verrichtet hast. Aber keine Sorge, ich nehm’s dir nicht übel, genier dich nicht, die Natur ist nun mal so.«
Einige Wochen später hatte sich die Situation umgekehrt: Edgar kam nicht mehr einmal am Tag zu Besuch, sondern verließ ab und zu das Haus. Als Gast, der sich in einen Kostgänger verwandelt hatte, schlief er meistens in einer Zimmerecke zwischen den Kleidern,
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