Die Entdeckung des Himmels
die dort auf dem Boden herumlagen.
Als das zahme Tier einmal flatternd auf Onnos Schulter hüpfte und sich mit dem Schnabel an seinem Ohrläppchen festhielt, wollte er ihn aus einem Reflex heraus wegscheuchen, war aber schon im nächsten Moment froh, es nicht getan zu haben, denn ein zweites Mal hätte es Edgar mit Sicherheit nicht mehr versucht. Jeden Tag bekam der Vogel nun Fragmente zu hören, mal diese, mal jene – und plötzlich hatte Onno das Gefühl, das Vorlesen bringe ihn in die Nähe einer Struktur.
»Hör mal«, sagte er, als er einmal mit der Lesebrille auf der Nase am Schreibtisch saß, »zum Beispiel das hier. Das ist sehr wichtig. Vielleicht sollte mein patriarchalisches Traktat damit anfangen. Die Goldene Mauer , lautet die Überschrift. Vor der Goldenen Mauer ist alles improvisiertes Chaos, dort wimmelt das Volk im lauten Durcheinander des Alltags herum, und daß dennoch nicht alles drunter und drüber geht, ist der Welt hinter der Goldenen Mauer zu verdanken. Hinter der Goldenen Mauer liegt nämlich wie das Auge des Zyklons die Welt der Macht: in mysteriöser Stille, beherrscht, zuverlässig, übersichtlich wie ein Schachbrett, eine Art geläuterte Welt platonischer Ideen. So ist zumindest das Bild, das sich die Machtlosen vor der Goldenen Mauer davon machen, und bestätigt wird es von all den dunklen Anzügen, den geräuschlosen Limousinen, der Bewachung, dem Protokoll, der perfekten Organisation und der samtenen Ruhe in den Palästen und Ministerien. Aber wer wie Sie und ich tatsächlich einmal jenseits der Goldenen Mauer gewesen ist, weiß, daß das alles nur Schein ist und es bei jeder Beschlußfassung ebenso chaotisch zugeht wie davor, bei allen anderen zu Hause, an der Universität, in Krankenhäusern oder Betrieben. Nie habe ich davon ein eindrücklicheres Bild bekommen als im archäologischen Museum in Kairo. Als Staatssekretär wurde ich dort einmal von meinem ägyptischen Kollegen herumgeführt. Wir sahen uns das Grab des Tutanchamun an, all die wunderbaren Dinge, die da ehrfurchterweckend ausgestellt waren. Aber es waren auch einige großformatige Fotos zu sehen, die zeigten, in welchem Zustand die Grabkammer vorgefunden worden war. Alles lag auf- und übereinander wie alter Trödel auf einem Speicher, und diese Unordnung war nicht nur das Werk von Grabräubern. Auch der Holzschrein, in dem sich der Sarkophag befand, war roh und falsch zusammengezimmert, und der granitene Deckel paßte nicht und war beim Einpassen zerbrochen. Das gleiche Bild auch bei den armseligen menschlichen Resten, die hinter der unbeschreiblich prächtigen goldenen Maske des Pharao zum Vorschein gekommen waren. Daß es hinter der Goldenen Mauer genauso chaotisch aussieht wie davor, wissen nur die Politiker, viele Beamte und manche Journalisten, aber das Gros der machtlosen Bürger hat davon kaum eine Ahnung. Wer jemals entdecken sollte – was so gut wie unmöglich ist –, wie Politik gemacht wird, der wird für den Rest seines Lebens mit einem Gefühl der Unsicherheit herumlaufen. Wenn dennoch auch hinter der Goldenen Mauer nicht alles im Chaos versinkt, so kommt das einem Wunder gleich: es deutet auf eine wiederum höhere Macht hin. Für Sie ist das kein Problem, für Sie ist diese höhere Macht Gott. Für mich ist jedoch leider nicht einmal das Funktionieren der Gesellschaft ein Gottesbeweis. Wie ist es dann aber möglich, daß sie bis jetzt funktioniert hat? Sie werden es nicht glauben, aber ich weiß es. Es ist auf die Existenz der Goldenen Mauer selbst zurückzuführen. Die Goldene Mauer ist die höchste Macht.
Warte mal, hier gehört dann natürlich das Zitat von Shakespeare hin, mit dem er eines seiner Sonette beginnt. Wo ist es?
Hier: From what power hast thou this powerful might? Das handelt von der Liebe, aber auch die Goldene Mauer hat etwas mit Liebe zu tun. Sieh mal, was wir hier haben: Welcher Art ist die Goldene Mauer? Die Machtlosen glauben, sie bestehe aus der Stein gewordenen Majestät der Mächtigen, die in manchen Fällen ihrerseits verehrt werden: als Befreier, als König, als Führer. In Wahrheit jedoch ist sie nicht Produkt der Mächtigen, sondern der Machtlosen: Verdinglichung ihrer Verehrung, ihrer Achtung und Furcht. Wenn aber die Machtlosen im Grunde nichts anderes verehren als ihre eigene Verehrung, nichts anderes achten als ihre eigene Achtung und nichts anderes fürchten als ihre eigene Furcht, wodurch sie zugleich von der Macht ferngehalten werden, was bleibt denn dann noch
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