Die Entdeckung des Himmels
Wirkung seiner Worte auf die Masse kann man ruhig zu noch mal dreiunddreißig Prozent auf das Konto dieser Stimme schreiben. In irgendeinem Buch habe ich einmal eine Röntgenaufnahme seines Schädels gesehen, anhand derer festgestellt wurde, daß er außergewöhnlich große Augenhöhlen hatte und damit eine sehr große Innenresonanz.
Und die dritten dreiunddreißig Prozent seiner Macht waren auf seine unvergleichliche Motorik zurückzuführen. Einerseits seine fürchterlichen Wutausbrüche am Rednerpult, andererseits sein vielleicht noch fürchterlicheres Schweigen: sein maskenhaftes Gesicht, die Präzision seiner Haltung, die Spannung in jeder noch so kleinen Bewegung. Die Art, wie er eine Parade abnahm, wie er die Hand mit leicht gewölbtem Handgelenk und abgespreiztem Daumen zum Gruß hob, die Art, wie er sie wieder zurück zum Koppel brachte – das alles hatte eine behexende Kraft. Er hatte natürlich alles vor dem Spiegel geübt, das belegen Fotos. Auch einige Dirigenten verfügen über diese absolute Beherrschung – wie ein Kolibri, der reglos in der Luft steht und seinen Schnabel im Flug in den Stempel einer Blüte taucht. In diesem Fall einer ›Fleur du mal‹. Sag mal, du fühlst dich doch nicht übergangen, wenn ich so ein kleines Vögelchen erwähne? Hier habe ich übrigens etwas, das in diesen Zusammenhang gehört: Nur aufgrund seiner totalen physischen Disziplin war Hitler in der Lage, das ebenso totale Chaos seines Gedankengutes durchzusetzen. Und seine physische Disziplin setzte sich fort in monsterhaften Paraden und Aufmärschen, die er allesamt selbst inszenierte und die nichts anderes waren als Reproduktionen seines Körpers. Eigentlich war er ein Bewegungskünstler, ein Tänzer, ein Ballettmeister des Todes. Die Choreographie dieser großen faschistischen Totentänze entstand weniger aus preußischem Militarismus denn aus dem Expressionismus, aus dem Theater von Piscator und dem Ballett von Mary Wigman, der Lehrerin Leni Riefenstahls, die die grauenhafte Faszination seiner Nürnberger Kundgebungen in ihrem ebenso grauenhaft -faszinierenden Film ›Triumph des Willens‹ auf Zelluloid bannte. Es war die Ehe zwischen Klassizismus und Expressionismus, zwischen Apollo und Dionysos: die realisierte Tragödie im Sinne Nietzsches. Seit die Menschheit existiert, wurde die schöne Form nie derart mißbraucht und in den Dienst des Bösen gestellt. Hitler war der eigentliche ›entartete Künstler‹. Und die Wirkung dieser Kreationen war letztlich nicht ästhetischer, sondern erotischer Natur, ebenso wie die von Hitler selbst. Alles, was er zu sagen hatte, was er politisch wollte, all diese Verbrechen machten nicht mehr als das restliche kleine Prozent seiner Macht aus. Daß also alles so geschah, wie es geschah, daß es ausgeführt wurde von Menschen, die von Haus aus nicht schlechter waren als andere, daß sechs Millionen Juden und noch fünfzig Millionen andere sterben würden, darunter auch acht Millionen derjenigen, die ihm zugejubelt und für ihn paradiert hatten, das hatte seinen Grund in den leibhaftigen neunundneunzig Prozent. Das war der enorme Surplus, über den er verfügte: sein einzigartiger Körper, der seine Macht absolut machte.
Deshalb ist er auch unmöglich von einem Schauspieler zu verkörpern; selbst wenn in einem Film nur sein Rücken gezeigt wird, haut es schon nicht hin. Vielleicht ist das der beste Beweis für meine These. Hinter seiner Goldenen Mauer jedoch hing dieser von der Vorsehung Gesandte wie jeder andere auch bei Kaffee und Kuchen im geblümten Fauteuil und brachte den ganzen Abend und die halbe Nacht mit uferlosem Geschwätz zu, wie wir von seinem Architekten Alfred Speer wissen. Und der mußte es wissen, denn jeder war in Hitler verliebt, aber Hitler war in Speer verliebt – vielleicht mehr noch als in Eva Braun. Während das deutsche Volk dachte, der Übermensch mit seinem triumphalen Willen schufte ununterbrochen hart für das Heil der Nation, tat er in Wirklichkeit fast nichts, schlief bis in den hellen Tag hinein und zögerte zur Frustration seiner Minister und Generale endlos, ehe er eine Entscheidung fällte. Aber dennoch! Speer erzählt, daß dieser verkappte Bohemien in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre immer düsterer wurde, sich bei Empfängen auf seinem Wohnsitz in den Alpen absonderte und von einer Ecke der Terrasse aus auf die Berge starrte. Darauf Speer: Wenn das nur keinen Krieg gibt! Das muß man sich einmal vorstellen! Ein einziges Individuum
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