Die Entdeckung des Himmels
schaut finster drein, und schon kann das Krieg bedeuten! Wie in Gottes Namen ist das möglich? Aufgrund eines Körpers, Edgar, seines zufälligen Körpers, es ist nichts anderes. Er war ein Naturereignis. Alle Mächtigen dieser Welt sind Naturereignisse und in diesem Sinn ›Ubermenschen‹ – aber dieses ›Über‹ sitzt nicht in ihrem Geist, sondern in ihrem Fleisch und hat mit Schönheit nichts zu tun – man kann klein sein und ein Bäuchlein haben wie Napoleon, halb behindert sein wie Kennedy oder eine Physiognomie besitzen wie Dorus, aber sie muß dasein, diese schwer zu beschreibende Körperlichkeit, denn alle haben sie sie, die einen mehr, die anderen weniger: Mitterrand mehr als Giscard und Reagan mehr als Carter, quer durch alle Länder und Jahrhunderte, all diese Dark Ladies der Macht. Man möchte sie berühren, ihr Fleisch spüren. Schrecklich! Es ist wie bei den Sektenführern und was es sonst noch an Rattenfängern gibt. Und noch schrecklicher ist, daß es so sein muß. Denn, hör zu: Macht ist unentbehrlich, sie ist der eigentliche Kern des Lebens selbst. In jeder Zelle wird vom DNS-Molekül Macht ausgeübt. Dort hat das Erbmaterial seinen Sitz, das alles bestimmt. Von der einfachsten lebenden Zelle über die Tiergemeinschaften bis zu den heutigen Staaten hat die Macht ihre Körperlichkeit behalten, weil sie nur so möglich ist: Macht ist die Voraussetzung der Körperlichkeit und Körperlichkeit Voraussetzung der Macht. Deshalb ist sie lange Zeit erblich gewesen. Der erste Capitano einer Dynastie hatte die physische Machtpräsenz eines Hitler, Stalin, Mussolini, Churchill, Fidel Castro oder Napoleon; danach reichte es aus, lediglich Fleisch seines Fleisches zu sein. (Bei uns liegt das übrigens auch in der Familie.) In den Niederlanden hängt in allen Minister- und Bürgermeisterbüros und in sämtlichen Gerichtssälen ein Porträt der Königin, aber Sie und ich wissen, wer im Büro der Königin hängt: Wilhelm von Oranien. Diese Erstlinge heißen in vielen Sprachen nicht umsonst ›geborene‹ Führer. Kriege waren jahrhundertelang dynastische Kriege, wie bei der Mafia, es ging um die Interessen der fürstlichen Familien, also um Körperlichkeit. Wo die Fürstenhäuser verschwanden, sorgte das Beamtentum für Kontinuität, seit Babylon und dem alten Ägypten ist es immer so gewesen, Beamte sind ewig, sie überleben ihre Pharaonen, Könige und Präsidenten, aber ohne Führer geht es nicht; Beamte ohne Führung sind Kleider ohne Kaiser. Daran könnte ein geeintes Europa durchaus scheitern.
Und noch etwas: Wichtiger als die Fähigkeit des Führers ist die Tatsache, daß er da ist. Mit einem unfähigen Führer geht es schlecht, aber ohne Führer verfällt alles der absoluten Willkür, aus der unwiderruflich ein neuer Führer auftaucht – denn das ist trotz des Optimismus aller Anarchisten das fundamentale DNS-Prinzip. Dieses Prinzip beherrscht übrigens nicht nur unser Leben, sondern alles, was es gibt. Der ersten lebenden Zelle geht das Atom voraus, das ebenfalls einen Kern hat, ein Quark mit Kernkräften. Auch das Sonnensystem hat einen Kern: Die Sonne übt durch ihre Anziehungskraft Macht über die stumpfen Planeten aus. Das ist sozusagen sonnenklar, Edgar. Aber wenn es also sowohl mit der toten als auch mit der lebenden Materie so bestellt ist, überlege ich mir gerade, könnten wir dann nicht den Big Bang als ›Kern‹ des Alls betrachten? Das hätte ich früher mit Max besprochen. – Jetzt rede ich schon wieder von ihm – wer das war, erzähle ich dir ein andermal. Auf jeden Fall auch so ein Verführer. Und jetzt das hier: Wo wir hinschauen, herrscht das ›Führerprinzip‹: Macht ist nötig, auch in demokratischen Gesellschaften, und diese Macht kann nur körperlich sein. In der Religion ist das längst bekannt, und der erste, der es formuliert hat, war Johannes: ›Und das Wort ist Fleisch geworden. Weißt du, was Jesus Christus sagte? ›Nehmet hin und esset, das ist mein Leib.‹ Hoc est enim corpus meum. Wer das Brot ißt, ißt Gott und wird erlöst: Dieses Superführerprinzip geht noch einen großen Schritt weiter als das von Hitler, ist aber im Kern das gleiche. Denk nur an die Reliquien, die von den Gläubigen durch die Jahrhunderte angebetet werden. Ein hohler Zahn vom heiligen Petrus in einem vergoldeten Schrein! Der Zehennagel des Apostels Paulus! Körper, Körper, nichts als Körper! Aber Macht kann nur dank der Goldenen Mauer Macht sein. Um seine Macht zu konsolidieren, mußte
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