Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
sich schließlich auch der Stellvertreter des entblößten Heilands in vollem Ornat hinter die Goldene Mauer des Vatikans zurückziehen. Und genau da beginnt die Schwierigkeit. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit droht die Goldene Mauer zu kippen. Irgendwann, zu Anbeginn der Zeiten, war sie von den Machtlosen der Welt mit dem Mörtel ihrer eigenen Verehrung, Achtung und Furcht errichtet worden, nun aber beginnt sie wie eine mittelalterliche Burg unheilvolle Risse aufzuweisen, durch die jeder hineinschauen kann. Sie waren zu Ihrer Zeit noch ›Seine Exzellenz der Ministerpräsident, Prof. Dr. jur. H. J. A. Quist‹, aber jetzt wären Sie für jeden einfach nur ›Henk‹ – was Sie nicht einmal für uns waren, höchstens für Mutter. Da die Machtlosen sehen können, daß in den Sälen der Burg genau das gleiche Chaos herrscht wie überall, verlieren sie schnell die Verehrung für ihre eigene Verehrung, die Achtung vor der eigenen Achtung und die Furcht vor der eigenen Furcht. So wird die Macht der Mächtigen untergraben, und die Kraft ihrer Körperlichkeit wird lächerlich. Bis schließlich im Machtlosen alle Sicherungen durchbrennen. Was interessiert uns das alles eigentlich noch! Warum sollen wir diese Telefonzelle dort denn nicht demolieren? Ja, warum eigentlich nicht? Dann haben wir wenigstens unseren Spaß. Sind irgendwo Bullen? Nein, nirgends.
    Auch in uns selbst nicht. Also schlagen wir zu. Weil es Spaß macht! Und warum macht es Spaß? Einfach so. Aber wodurch ist das plötzlich so gekommen, nach all diesen Äonen? Vielleicht hat es etwas mit der Technik zu tun, ich weiß es nicht; die Technik ist auf jeden Fall das einzige, das sich ganz plötzlich mit rasender Geschwindigkeit entwickelt hat. Ich verstehe den Zusammenhang nicht, und die Tatsache, daß auch das Telefon etwas Technisches ist, verwirrt mich – aber wenn es so ist, dann sieht die Zukunft finster aus. Wenn es so weitergeht, wird der soziale Vertrag Makulatur, und dann geht allmählich die ganze Gesellschaft baden, dann versinkt alles in ›kernloser‹ Anarchie, was gegen das Kern-Prinzip alles Existierenden verstößt. Außerdem glaubt im Westen fast niemand mehr an einen rächenden Gott, und auch im Osten wird es nicht mehr lange dauern; in fünfundzwanzig Jahren glaubt dann auch kein Mensch mehr an Allah, wenn sie dort erst einmal einen Kühlschrank und ein Auto haben. Wie soll dann eine Invasion faschistischer Tyrannen verhindert werden, die sich wie Krebserreger in die leeren Kerne einnisten?
    Die Antwort habe ich hier aufgeschrieben, Edgar. Ich wage kaum, sie laut vorzulesen, und es ist nur gut, daß es meinem Vater nie unter die Augen kommt. Als Junge – in einer Zeit, die noch Ihre war – ist es mir im Park einmal passiert, daß mein Ball auf den Rasen rollte. Da es verboten war, den Rasen zu betreten, wartete ich mindestens fünf Minuten, bis nirgends mehr ein Mensch zu sehen war; erst dann traute ich mich, über den niedrigen Zaun zu steigen, mit pochendem Herzen die paar Schritte über den Rasen zu machen und so schnell wie möglich wieder zurückzuspringen. Diese Hemmung, das pochende Herz, darum geht es. Habe ich mich deswegen unfrei gefühlt? Nicht im geringsten. Es war nun einmal so, daß man den Rasen nicht betreten durfte. Ich fühle mich im Moment ja auch nicht unfrei, weil ich niemanden erschlagen darf. Das ist nun wirklich ganz und gar nicht erlaubt. Aber wie will man verhindern, daß eines Tages jeder jeden ohne pochendes Herz erschlägt? Wie kriegen wir das Herz wieder zum Pochen? Doch nur durch die Forcierung des Respekts. Ich sage ›Respekt‹ – nicht Furcht als Auswirkung irgendeines diktatorischen Regimes, sondern Respekt um des Respekts willen: eine neue Goldene Mauer um der Goldenen Mauer willen. Dies ist wohl nur unter der autoritären Führung eines aufgeklärten Despoten möglich – mit der Betonung auf ›aufgeklärt‹. Unter der Führung von jemandem, von dem jeder weiß, daß für ihn das Wohl seiner Mitbürger an erster Stelle steht, was ihn also gleichzeitig zum absoluten Demokraten macht. Jemand wie Perikles zum Beispiel. Aber wie institutionalisiert man das? Woher soll man wissen, ob der Despot tatsächlich aufgeklärt ist? Schon Platon rang mit diesem Problem, aber in spätestens fünfundzwanzig Jahren wird auch das mit Hilfe der DNS-Analyse zu lösen sein – wenn in Tibet der neue Dalai-Lama unter den Neugeborenen der Umgebung ausfindig gemacht werden soll, klappt das ja auch. Die Frage

Weitere Kostenlose Bücher