Die Entdeckung des Himmels
ist nur: Wie bringen wir die nächsten fünfundzwanzig Jahre unversehrt hinter uns? Ich ahne unabsehbare Veränderungen, denen schreckliche Katastrophen folgen werden. Das demokratische Institut wird im übrigen nicht sehr lange zu funktionieren brauchen, ein Jahrhundert vielleicht; mit Hilfe der Zehn Gebote wird danach jeder genetisch zu einem anständigen Menschen gemacht, die Obrigkeit wird aus einem Computernetzwerk bestehen, mit einem Mongoloiden als Dominus Mundi, und die Technologie wird zur göttlichen Allmacht höchstpersönlich. Bis dahin wird keine Telefonzelle mehr demoliert und kein Rasen mehr betreten, auch wenn dort ein Ball liegt. Vermutlich wird dann niemand mehr Ball spielen. – Ist das nicht furchtbar?
Nur gut, daß mein Sohn das nicht lesen wird. Ja, Edgar, ich hatte einmal einen Sohn. Quinten hieß er. Schade, daß ich ihn dir nie zeigen kann, aber ich werde dir noch von ihm erzählen. Aber jetzt erst einmal den Brief. Es ist mir zwar noch nicht alles vollkommen klar, aber wie wäre es, wenn ich einfach so anfangen würde: Hochverehrter Vater!«
Mit schlagenden Flügeln sprang Edgar auf Onnos Schulter.
»Cras. Cras.«
52
Italienische Reise
Als der Papst am 11. Mai 1985 zum ersten Mal in die Niederlande flog, fuhr Quinten mit dem Zug unter ihm durch in den Süden, unterirdisch, durch endlose Alpentunnel, hinter denen sich plötzlich Italien ausbreitete: blau und grün und hügelig und warm wie auf Groot Rechteren, wenn er aus den kühlen Kellern in die warme Sonne auf den Vorplatz kam. Sophia hatte ihn zum Bahnhof gebracht und ihn mit versteinerter Miene umarmt, aber gleich nach dem Abschied war sie aus seinen Gedanken verschwunden; auf der Fahrt las er nicht und schlief nicht, sondern schaute unentwegt aus dem Fenster auf die unzähligen Städte und Dörfer in Deutschland und in der Schweiz, wo sein Vater sein konnte. Als er jedoch in Mailand im Gedränge des Bahnsteigs seinen Anschlußzug suchte, überkam ihn allmählich ein aufregendes Gefühl der Freiheit, das sich zu einem Glücksgefühl steigerte, als er bei Mestre auf dem Damm durch die Lagune fuhr und in der Ferne Venedig liegen sah – ein verschwommenes blaues Phantom, als sei der Himmel am Horizont leicht angehoben worden und gebe durch diesen Spalt den Blick auf eine andere Welt frei. Lag dort seine Burg?
Er kam mit seinem blaugrauen Nylonrucksack aus dem Bahnhof und blieb stehen. Auf den breiten Treppen und auf dem Vorplatz saßen Hunderte junger Leute in der Sonne, gegenüber lag eine weiße Kirche, und dazwischen, so schien es ihm, wurde das Wasser des Canale Grande von einer riesigen, unsichtbaren weißen Vogelfeder umgerührt: Alles bewegte sich, es war, als ob das Licht selbst auf und ab wogte und sich kräuselte und in der Sonne glitzerte; Gondeln, Vaporetti, Wassertaxis, überall ein Hin und Her und Rufen und Auf und Ab wie eine überschäumende Welle in der Brandung.
Zugleich hatte er das Gefühl, daß er, als er so staunend dastand, mehr Blicke auf sich zog als zu Hause. In einem einfachen Hotel in der Nähe bekam er ein Zimmer, im etwas abseits gelegenen Wohnviertel Cannaregio, wo nur wenige Touristen hinkamen. Im Bogen über der Eingangstür stand etwas Hebräisches, das kaum zu erkennen war. Das Fenster seines Zimmers ging auf einen kleinen Innenhof, wo der Putz von den Wänden blätterte, sein Bett war fast so groß wie der ganze Raum, und die Dusche lag auf dem Flur, aber mehr brauchte er nicht: er hatte ja die Stadt.
Schon nach wenigen Tagen waren die Niederlande so weit weg, als sei er nie dortgewesen. Der Körper seiner Mutter in ihrem schneeweißen Bett, Max’ leeres Grab, sein verschwundener Vater, es war, als sei das alles nicht mehr sein Leben. Er kümmerte sich um niemanden, redete den ganzen Tag nur mit irgendwelchen Dingen, irrte von früh bis spät durch das Gewirr der Gassen, Kanäle, Brücken, dunklen Tore und stillen Plätze, aß hier einen Teller Tortellini, dort eine Portion Spaghetti, besuchte Museen und Kirchen, ließ sich treiben und erlaubte es sich hie und da vom Weg abzukommen. Wenn ihm die Ziellosigkeit zu lange dauerte, warf er einen kurzen Blick auf seinen Kompaß, den er sich um den Hals gehängt hatte, und orientierte sich am Grundriß der Stadt, den er sich vorstellte als zwei entspannt ineinandergreifende Hände, die vom Canale Grande getrennt wurden. Die Ähnlichkeit des Gassengewirrs mit einem Labyrinth und das Fehlen von Bäumen und Pflanzen und sich drehenden Rädern erinnerte
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