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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ihn manchmal an seinen Traum. Hinter der Piazza San Marco entdeckte er eine Kirche, San Moisè, deren schwarze Fassade von oben bis unten mit einem barocken Ekzem aus Bildern und Ornamenten überzogen war; wenn er sich direkt davorstellte und den Kopf in den Nacken legte, sah sie aus wie ein Fragment dieses Traumes. Drinnen der Hochaltar war ein gigantisches Monument und hieß: Der heilige Moses erhält auf dem Berg Sinai die Gesetzestafeln.
    Ansonsten war seine Burg, wo außer ihm nie jemand gewesen war, eher das Gegenteil Venedigs. Nicht nur wegen der Menschenmassen, die sich unaufh örlich auf immer denselben Ameisenstraßen bewegten, die er schon bald zu meiden wußte, sondern vor allem, weil es hier kein Innen-ohne-Außen gab und alles eher ein Außen-wie-Innen war. Jedesmal, wenn er aus dem Labyrinth durch ein Tor oder eine enge Gasse auf den Markusplatz trat, traf ihn das wie ein Paukenschlag. Dieser riesige, mit Marmor ausgelegte Festsaal mit dem Himmel als Decke, den Tiepolo mit richtiger blauer Luft und gefiederten Wolken bemalt hatte! All dieses Leichte und Schwebende, ob nun byzantinisch, gotisch oder aus der Renaissance, die filigranen Arabesken der Basilika, die vier Pferde, die sie durch die Jahrhunderte zogen, der rosarote, wie gestern erst fertiggestellte Dogenpalast mit seiner Galerie aus Schlüsseln mit Bärten wie Balustraden und Stielen wie Pfeilern, mit den gotisch perforierten Augen, die das Gewicht des ganzen Gebäudes zu tragen schienen – daß es so etwas gab! Und am Ende der Piazza, wie ein Tor zum großen Draußen, zur weiten Welt, zwei kolossale Säulen aus rotem und weißem Granit mit dem geflügelten Löwen und dem Schutzheiligen auf einem Drachen, zwischen denen jahrhundertelang die Hinrichtungen stattgefunden hatten! Sogar Verbrechern erlaubte man, hier in dieser Schönheit zu sterben: Das letzte, was sie vor ihrem Tod sehen durften, war das lebendige Wasser der Lagune – und gegenüber, auf der kleinen Insel, die Kirche: Palladios San Giorgio Maggiore.
    Da war sie nun endlich, doch jetzt nicht mehr in den Büchern von Herrn Themaat, sondern im Licht der Sonne und m Seewind der Adria. Der Giebel aus weißem Marmor mit den beiden harmonisch ineinandergeschobenen Tempelfronten, dahinter das schlichte Schiff aus rotem Backstein mit der aufgesetzten grauen Kuppel auf dem Geviert. Er nahm ein Vaporetto, um alles aus der Nähe und von innen zu betrachten, und fuhr auch über jene Stelle, an der der Doge jahrhundertelang Jahr für Jahr einen Ring ins Wasser geworfen hatte, um seine Ehe mit dem Meer zu besiegeln.
    Wie konnte Venedig ihn bloß so faszinieren, obwohl diese Stadt doch so wenig mit seiner Burg zu tun hatte? Im Grunde gehörten auch Palladios strenge Symmetrien nicht hierher, denn in Venedig war fast alles asymmetrisch. Die Piazza war kein Rechteck, sondern ein Trapez, die Basilika stand nicht in der Achse, und auch die Fenster des Dogenpalastes spiegelten sich nicht ineinander. Konnte es sein, daß die Schönheit geometrisch und musikalisch berechenbar war, die Vollkommenheit jedoch davon abwich? Ähnlich einer geraden Linie, die mit dem Lineal gezogen immer weniger eine war, als wenn sie Picasso ohne Lineal zeichnete? Gab es einen Unterschied zwischen einer toten und einer lebenden Linie? Sollte er vielleicht Kunstgeschichte studieren? Aber ohne Abitur war das nicht möglich, und außerdem interessierte ihn die Kunst nicht um der Kunst willen, sondern dessentwegen, was dahinterlag.
    Am Himmelfahrtstag machte er eine Exkursion aufs Festland, nach Vicenza. In einer Gruppe, die hauptsächlich aus Engländern bestand, besichtigte er das Teatro Olimpico, mit seinem märchenhaften Innen-ohne-Außen, und viele der Kirchen und Paläste, die er alle aus der Bibliothek auf Groot Rechteren – P wie Palladio – kannte und die nun nicht mehr vom stillen Weiß der Seiten eingerahmt wurden, sondern im Straßenlärm der Autos und Motorroller inmitten anderer Gebäude unterzugehen drohten, wo alte Herren auf den Plätzen davor sich lautstark unterhielten, um sogleich Arm in Arm weiterzugehen, wo Obstfrauen schrien und junge Pizzabäcker mit lachenden Gesichtern ihre rotierenden Teigscheiben in die Luft warfen, um die Naturgesetze im Geiste Galileis und Newtons ihren Lauf nehmen zu lassen. Auf dem Rückweg hielt der Bus vor zwei Landsitzen von Palladio: kurz hinter Vicenza zunächst an der Villa Rotonda, einer steinernen Vision auf dem Gipfel eines grünen Hügels, die durch ihren runden

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