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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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komme jedes Jahr im Mai hierher, an den Ort, an dem sie ihre Flitterwochen mit ihrem verstorbenen Mann verbracht habe – im Hotel Excelsior auf dem Lido, immer dieselbe Suite mit Blick auf das Meer.
    »Warum eigentlich nicht?« sagte sie, während sie nebeneinander in der ersten Reihe des Busses über den Damm nach Venedig zur Piazzale Roma fuhren, zum Endpunkt für den motorisierten Verkehr. »Komm doch einfach mit. Dort ist ein herrliches Schwimmbad, das einzige in ganz Venedig. Du kannst auch bleiben, wenn du möchtest. Wo wohnst du?«
    Quinten sah plötzlich ungeahnte Abenteuer vor sich, wie in den Romanen, die Clara Proctor immer verschlungen hatte.
    Eine reife, schöne, begehrliche Frau, offenbar auch noch steinreich, die ihn unter ihre Fittiche nehmen wollte – doch er wußte, daß ihm etwas anderes zugedacht war. Er durfte sich nicht von zufälligen Begegnungen mitreißen lassen, auch wenn ihm nicht klar war, wovon sie ihn ablenken könnten, er war ohne Ziel und Plan und tat, was ihm einfiel; er hätte jetzt ebensogut auch woanders sein können.
    Als er antwortete, er wolle lieber auf sein eigenes Zimmer, bestand sie darauf, ihn wenigstens ein Stück zu begleiten; sie sei noch nie in Cannaregio gewesen und werde von dort ein Wassertaxi zum Lido nehmen. Unterwegs redete sie ununterbrochen über sich und die Weinberge ihres Mannes in der Wachau an der Donau, die jetzt sie bewirtschafte; zum Glück fragte sie nicht nach seinen Verhältnissen. An der Hoteltür, unter der Wäsche, die wie eine Girlande von einer Seite der Gasse zur anderen hing, wollte er sich von ihr verabschieden, aber sie schlug vor, irgendwo noch etwas zu trinken. Einen Prosecco von Conegliano, Valdobbiadene zum Beispiel, wenn man irgendwo unterwegs sei, müsse man immer den Wein aus der Gegend trinken. Quinten trank nie Wein, aber er hatte Durst. Als sie ein Straßencafe suchten, wovon es nur wenige gab in dieser Gegend, kamen sie über eine Holzbrücke und durch einen niedrigen, dunklen Sotoportego in einen Innenhof des Gettos aus dem sechzehnten Jahrhundert, dem alle späteren Gettos ihren Namen verdankten. Die Häuser waren höher als sonst in der Stadt, und es gab hier sogar einige Bäume. An einem runden Brunnen mit einem Marmordeckel setzten sie sich auf eine Bank. Die meisten Fensterläden waren geschlossen, in einigen Blumenkästen drehten sich bunte Papierrädchen. Außer den Tauben in Nischen und auf verwitterten Fenstersimsen war kein Lebewesen zu sehen, und in der hereinbrechenden Dämmerung schauten sie lange in die große Stille, die über den Steinen hing.
    Plötzlich legte Frau Kirchlechner ihre Wange an seine Schulter und begann zu schluchzen.
    »Was ist denn?« fragte er erschrocken.
    Mit großen, in Tränen schwimmenden Augen sah sie zu ihm auf, als ob er ihr Vater wäre.
    »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist – ich habe mich in dich verliebt, Quinten. Sofort als ich dich sah. Zuerst dachte ich, daß es eine Laune sei, das gibt es bei mir öfter; aber jetzt, wo ich weiß, daß ich dich nicht wiedersehen werde, merke ich, daß es ganz anders ist. Ich mache mir eigentlich gar nichts aus Jüngeren, falls du das meinen solltest. Das ist mir noch nie passiert. Mein Mann war doppelt so alt wie ich, aber jetzt bin ich doppelt so alt wie du. Warum bist du nicht sechsundzwanzig, von mir aus! Aber sechzehn! Das ist doch unglaublich, ich muß verrückt sein!« Sie stand auf, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küßte ihn auf beide Augen. »Leb wohl, Engel – mach’s gut!«
    Ehe er etwas sagen konnte, sah er ihre weiße Gestalt über die Campo schweben wie ein Laken, daß sich von der Wäscheklammer losgerissen hatte, und im dunklen Tor verschwinden.
    Entgeistert sah er in das schwarze Loch. Was hatte er angerichtet? Sollte er ihr nachgehen? Und dann? Nein, so war es am besten. Als irgendwo mehrere Rolläden ratternd heruntergelassen wurden, ging er in sein Hotel zurück. Er hielt den Mund unter den Wasserhahn und warf sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht. Im Bett wollte er noch ein wenig in seinem Reiseführer lesen, aber er schlief er sofort ein – und träumte, nicht den somnium quinti , sondern von Feuer –.
    Erst wohnt er auf dem Dachboden eines mehrstöckigen Hauses, das aussieht wie die Häuser im Getto, mit einem viereckigen Schornstein an der Außenwand. Er schreit aus dem Fenster, man solle die Feuerwehr rufen, aber alle schauen nur herauf und zucken die Schultern. Nichts los, wird schon nicht so

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