Die Entdeckung des Himmels
schlimm sein, Panikmache. Als die Wohnung lichterloh brennt und alle Balken sich in Architrave aus Feuer verwandeln, wohnt er plötzlich im Souterrain. Dann kringelt auch dort Rauch zwischen den Fliesen hoch, wieder hört ihn keiner, und alles geht in den Flammen auf Er wachte vom Hunger auf. Draußen war es bereits dunkel, zehn Uhr. Er ließ die Daumen knacken und stand völlig gerädert auf. In einem kleinen Restaurant am Canale Grande aß er zwischen Einheimischen und Gondolieri in gestreiften Kitteln, die sich lautstark in einer Sprache unterhielten, die nur entfernt an Italienisch erinnerte, einen Teller Ravioli. Ab und zu erschien die Wiener Marlene vor seinen Augen. Im Excelsior verspeiste sie jetzt wahrscheinlich – umgeben von Scheichs, japanischen Großindustriellen und amerikanischen Ölbaronen – im Schein kristallener Kronleuchter Langusten und Kaviar, aber es war, als sei sein Traum zur Barriere geworden, die sie endgültig in die Vergangenheit setzte. Dank dem Baron war glücklicherweise auch er reich. Er genehmigte sich einen zweiten Espresso, legte fünfh undert Lire Trinkgeld auf die Rechnung und schlenderte noch eine Weile durch die Gassen.
In dem ausgestorbenen, mitternächtlichen Venedig waren die Fensterläden und Straßencafés zu, ein Nachtleben gab es nicht. Quinten blieb auf der Brücke über einem schmalen Kanal stehen. Links und rechts verwitterte Häuserwände mit Abflußrohren im reglosen Wasser, weiter hinten, über einen Seitenkanal, eine zweite Brücke, die einen Durchblick auf die zierliche Rückseite eines gotischen Palazzo freigab, die natürlich die Vorderseite war. Er sah die grünen, mit Algen bewachsenen Stufen, die überall aus dunklen vergitterten Bögen ins Wasser führten und sich unter Wasser fortzusetzen schienen. Diese absolute Stille! War seine Mutter jemals hiergewesen? Sein Vater? Max? Plötzlich füllte sich die Stille mit einem kaum hörbaren Rauschen, und kurz darauf glitt unter der Brücke eine Gondel mit der glänzenden venezianischen Hellebarde auf dem Vorderdeck hervor, dann drei schweigende japanische Mädchen und schließlich der Gondoliere, der sich aufrichtete, mit einem winzigen Schlag des Ruders die Gondel leicht zur Seite manövrierte und sich mit einer vollkommenen Bewegung, in der Gondel, Wasser, Stille und Stadt zur Einheit wurden, kurz mit dem Fuß von einer Hauswand abstieß, um nicht an Geschwindigkeit zu verlieren.
Im selben Augenblick sah Quinten eine Brücke weiter einen weißen Fleck, Marlene Kirchlechner, die sofort verschwand, als sie bemerkte, daß er sie entdeckt hatte. Während er schlief, hatte sie die ganze Zeit auf ihn gewartet, war ihm zum Restaurant gefolgt, hatte wieder gewartet und war ihm erneut gefolgt! Er mußte weg aus Venedig – am besten noch heute abend.
Vielleicht war es der Klang des Namens Florenz , der in ihm die Vorstellung geweckt hatte, diese Stadt würde noch silberner und verträumter sein. Doch er kam in ein lärmendes, stinkendes Verkehrschaos, an das er sich nach fünf Tagen Venedig nur schwer gewöhnen konnte. Und während dort alles hell und offen gewesen war, so blieb es hier schwerfällig und verschlossen. Was in Venedig das Meer war, waren hier festungsartige Wälle, kolossale Steinquader und Gitter; alles Schöne war fast ausschließlich hinter Palästen und Museumstoren untergebracht. Aber gerade das, was Florenz von Venedig unterschied, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Burg, und das tröstete ihn ein wenig über seine Enttäuschung hinweg.
Da alle bezahlbaren Hotels ausgebucht waren, mußte er sich mit einer schmuddeligen Herberge begnügen und sich mit sieben anderen, Studenten und älteren Männern, ein Zimmer teilen. Außer seinem Bett hatte er nur noch einen Stuhl zur Verfügung, von dem aus er das Kruzifix über der Tür betrachten konnte. Umgeben von internationalem Schnarchen dachte er seit langem zum ersten Mal wieder an sein Zimmer auf Groot Rechteren. Oder gab es das schon gar nicht mehr?
Hatte sich Korvinus inzwischen alles unter den Nagel gerissen? Es kam ihm vor, als sei er seit Monaten von zu Hause weg, dabei war es kaum eine Woche. Aus Venedig hatte er sich nicht gemeldet, und er nahm sich vor, seiner Großmutter so schnell wie möglich zu schreiben. Aber er schrieb weder einen Brief noch eine Karte. Jedesmal, wenn er an einem Drehständer mit Ansichtskarten vorbeiging – Piazza della Signoria, Palazzo Pitti, Ponte Vecchio, Battistero – , überkam ihn ein solcher
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