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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Widerwille, daß er weiterging, ohne auch nur eine Karte gekauft und auch nur Viele Grüße aus Florenz darauf geschrieben zu haben.
    In den Uffizien jedoch legte er sich eine ganze Galerie von Karten zu, um sie später auf den Stuhl neben sein Bett zu stellen. In dem Meer von Kunstschätzen, die dort zu sehen waren, traf ihn unversehens eine Verkündigung von Leonardo da Vinci: Ein Engel, der sich wie auf Zehenspitzen der Jungfrau Maria näherte, hatte den Kopf leicht geneigt und den schuldbewußten Blick von jemandem, der weiß, daß das, was er vorhat, nicht ganz in Ordnung ist. Kein Wunder, wenn Maria zu denken schien: »Wer bist du? Was willst du hier?« Der Engel würde ihr also gleich verkünden, daß sie vom Heiligen Geist empfangen werde; aber war es nicht so, daß hier viel mehr geschah als nur eine ›Verkündigung‹ – war es nicht das Ereignis selbst? Gleich würde er sie bespringen! Und warum war Joseph nicht dabei? Joseph hatte ja wohl das Recht, sicherzugehen, daß ihn seine Verlobte nicht mit dem Fensterputzer betrogen hatte. Da könnte ja jede kommen und sagen, sie sei aus purer Frömmigkeit schwanger geworden. Er suchte in den anderen Sälen nach weiteren Verkündigungen, aber auf keiner einzigen war Joseph mit von der Partie. Dieser Einfaltspinsel war offenbar in seiner Schreinerwerkstatt, um das tägliche Brot im Schweiße seines Angesichts mit der Herstellung von Kreuzen zu verdienen, für die Römer vielleicht, während seine Zukünftige zu Hause den englischen Verführersprüchen lauschte und sich mit einem Abgesandten Gottes gehenließ. In dem Verkündigungsrelief auf der Frontseite der Rialtobrücke war auf dem linken Pfeiler am Anfang des Brückenbogens der Erzengel Gabriel zu sehen, auf dem höchsten Punkt des Bogens die Taube, die er aufgeworfen hatte, und auf dem rechten Pfeiler Maria, wie sie hingebungsvoll auf den Heiligen Geist wartete. Die Taube war also nichts anderes als der heilige Same des Engels!
    Wie gerne er sich mit seinem Vater darüber unterhalten hätte! Wäre er mit ihm einer Meinung gewesen? Vielleicht hätte er die Abbildungen der Verkündigung zustimmend »religiöse Peepshows« genannt; vielleicht hätte er aber auch entsetzt ausgerufen: »Dieser schändliche Gedanke wird dir den Kopf zermalmen!« Er mußte lachen. Letzteres erschien ihm das Wahrscheinlichere.
    Als er an seinem zweiten Tag in Florenz zwischen den Skulpturen des Museo Bargello umherirrte, mußte er plötzlich an Theo Kern denken, der hier natürlich auch gewesen war, um zu lernen, wie seine Kollegen den überflüssigen Stein entfernt hatten. Durch die Fenster des alten Palastes sah er ab und zu zu den Florentinern auf der Straße und in den qualmenden Autobussen hinaus und fragte sich, wie viele von ihnen all diese wunderschönen Dinge hier je betrachtet haben mochten.
    Wer von ihnen wußte schon, daß in ihrer Stadt die Renaissance erfunden worden war? Vielleicht umfaßte das Gedächtnis der allermeisten Menschen auf der Welt nicht mehr als das eigene Leben; vielleicht waren sie sich gar nicht bewußt, daß sie tausend Jahre nach ›vor tausend Jahren‹ lebten. Zwischen Geburt und Tod waren sie Gefangene einer fensterlosen Zelle; alles war für sie so, wie es immer schon war. Das stimmte so natürlich nicht, aber es war dennoch nicht falsch, und auch vor tausend Jahren war es nicht anders gewesen, auch nicht vor zweitausend oder zehntausend. Indem man einfach lebte, arbeitete, sich amüsierte, aß und sich fortpflanzte, war man doch eigentlich viel ewiger als all die unsterblichen Meisterwerke dieser einzigartigen Individuen!
    Bei einer Skulptur blieb er stehen: zum Beispiel das hier.
    Ein bildhübscher, nackter Jüngling, der die rechte Hand auf seinen Kopf und die linke auf den eines großen Adlers gelegt hatte, der zu seinen Füßen saß und anhänglich zu ihm aufsah. Benvenuto Cellini, 1500–1571. ›Ganymedes‹. Den Mythos kannte er nicht, aber er wußte, daß dahinter eine alte Geschichte stecken mußte. Wie hinter allem. Nur wer alle Geschichten kannte, kannte die Welt. Und es war ja wohl auch kaum anders möglich, als daß hinter der ganzen Welt mit all ihren Geschichten auch wieder eine Geschichte steckte, die dann älter war als die gesamte Welt. Diese Geschichte müßte man versuchen zu finden!
    »Hast du dafür Modell gestanden?«
    Quinten schreckte auf. Ein großer hagerer Mann, der ihm irgendwie bekannt vorkam, strahlte ihn mit lachendem Gesicht an, aber das Lachen gefiel ihm nicht.

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