Die Entdeckung des Himmels
Er war etwa fünfzig, hatte schütteres Haar, wache Augen und dünne Lippen; aus seinen nach innen aufgekrempelten Ärmeln ragten zwei blasse Arme mit Goldkettchen an beiden Handgelenken. Auf einmal fiel Quinten wieder ein, wo er ihn schon einmal gesehen hatte: Er schlief im selben Zimmer wie er, auf der anderen Seite des Mittelgangs.
»Nein«, sagte er unwirsch.
»Hab deinen holländischen Reiseführer auf dem Stuhl liegen gesehen. Ich heiße Menne.«
Quinten nickte, hatte aber nicht vor, seinen eigenen Namen zu nennen. Was wollte dieser Kerl? War er ihm vielleicht auch gefolgt?
Menne sah zwischen dem Bild und ihm hin und her.
»Ihr seht euch verdammt ähnlich, weißt du das? Du hast bestimmt auch so spitze Brüstchen und so schöne Beine. Nur deine Augen, die sind viel schöner. Und das kleine Schwänzchen, ich wette, du hast einen viel größeren. Stimmt’s? Sei mal ehrlich –« Mit leicht gerötetem Gesicht beugte er sich zu ihm.
»Hast du schon Haare drauf? Und spielst manchmal damit?
Ist doch so, oder?«
Quinten traute seinen Ohren nicht. So ein Schwein! Ohne ein Wort ließ er ihn stehen und verließ den Saal.
»Du brauchst dich gar nicht so zu haben«, rief ihm Menne nach, »es war doch nur ein Scherz. Komm, ich lad dich zu einem Cappuccino ein.«
Als Quinten die Treppe erreicht hatte, nahm er drei Stufen gleichzeitig und rannte kreuz und quer durch die Gassen, um den Kerl abzuhängen. Doch der war ihm offenbar gar nicht gefolgt, da er ihn am Abend ohnehin in der Herberge wiedertreffen würde. Als Quinten um elf Uhr ins Bett ging, war Menne zum Glück noch nicht da. Vielleicht war er ja schon abgereist.
Mitten in der Nacht wachte er auf von einer Hand, die unter der Decke zwischen seinen Beinen herumfuchtelte. Der Kerl saß tatsächlich auf dem Bettrand, stank nach Alkohol und hatte den Hosenschlitz aufgeknöpft, aus dem, bläulichweiß wie Waschpulver, ein dicker Penis ragte, den er mit der anderen Hand mit einer Geschwindigkeit rieb, die Quinten an die Pleuelstange von Arendjes Lokomotive erinnerte, als dieser sie mit voller Kraft über die Schienen gejagt hatte. Das Ding war schon ganz krumm von all der Reiberei.
»Hau ab, du Drecksau!« sagte er.
»Oh, Schätzchen, Schätzchen«, flüsterte Menne, »laß mich, laß mich, bin gleich fertig –«
Er versuchte, Quinten auf den Mund zu küssen, und zum ersten Mal in seinem Leben ballte Quinten seine Faust, holte aus und schlug ihm, so fest er konnte, ins Gesicht. Stöhnend stand der Liebhaber auf und ließ sich vornüber auf das eigene Bett fallen, wo er mit zuckendem Hintern liegenblieb.
Niemand hatte etwas bemerkt. Für einige Sekunden lauschte Quinten benommen auf das Schnarchen um ihn herum. Er begriff, daß er zum zweiten Mal aus einer Stadt gejagt wurde.
Wütend stand er auf, kleidete sich an, packte seine Sachen in den Rucksack und legte die Ansichtskarten mit den Verkündigungen in seinen Reiseführer. Beim Portier, der auf einem braunen Kunstledersofa den Osservatore Romano las, bezahlte er und ging durch die kühlen Straßen zum Bahnhof.
In der Bahnhofshalle legte er sich zwischen Dutzende junger Leute auf den Boden und versuchte, noch etwas zu schlafen.
53
Der Schatten
Auch beim Einkaufen am Morgen saß Edgar auf Onnos Schulter, in den Geschäften achtete man schon nicht mehr darauf.
Auf der Straße spreizte der Vogel manchmal plötzlich die Flügel, stieß sich ab und flog nach einem Hüpfer auf Onnos Kopf auf eine Dachrinne oder verschwand hinter den nächsten Häusern, kam aber immer wieder zurück. Onno hing mehr an ihm, als er sich eingestehen wollte – vielleicht um sich vor dem Gedanken zu schützen, daß er eines Tages nicht wiederkommen könnte. Angenommen, einer dieser schießwütigen Hobbyjäger würde ihn abknallen! Die Menschheit enthielt mehr als genug solchen Abschaums.
»Natürlich gibt es auch ein paar anständige Leute«, belehrte er Edgar auf der Straße, ohne auf die Blicke zu achten, die die Passanten auf ihn warfen, »ich schätze sie auf acht Prozent der Menschheit. Aber weitere acht Prozent bestehen immer und überall aus dem schlimmsten Pack, das zu allem fähig ist. Wenn sie die Gelegenheit bekommen, rotten sie zuallererst die guten acht Prozent aus. Der Rest ist weder gut noch schlecht und hängt seine Fahne nach dem Wind.
Auf den ersten und den dreizehnten, auf die muß man achtgeben; die restlichen elf tun nichts zur Sache. Das heißt, der erste muß zusehen, daß er sie auf seine Seite zieht, um
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