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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Zentralbau eine Nachfahrin des römischen Pantheons zu sein schien, jedoch vier Zugangsportale mit Treppenaufgängen und griechischen Tempelfronten besaß, die jeweils einer Himmelsrichtung zugewandt waren.
    Als er dort über den Marmor zwischen Trompe l’oeil -Fresken von Pilastern und Göttergestalten spazierte, durch die das Innere wie ein Außen wirkte, fiel ihm die dunkelblonde Frau in der Reisegruppe zum ersten Mal auf. Er betrachtete gerade die Abbildung einer Diana mit einer entblößten Brust und einem schwarzen Hund auf der Jagd und spürte plötzlich ihre Blicke. Sie trug ein langes weißes Kleid, hatte die Haare locker hochgesteckt und hielt den Kopf ein wenig geneigt, was die Sinnlichkeit ihres Lächelns und ihrer großen braunen Augen noch unterstrich; sie stand auf der anderen Seite des Rondells vor dem Bild eines protzigen Herkules. Die Situation war ihm unangenehm, er fühlte sich aus seiner Konzentration gerissen und versuchte, die Frau zu ignorieren; aber auch als sie wieder in den Bus gestiegen waren, wo er ganz vorne saß, merkte er, wie sie ununterbrochen auf seinen Hinterkopf starrte. Sie war fünfzehn bis zwanzig Jahre älter als er, aber selbst wenn sie jünger gewesen wäre, hätte sie ihn nicht interessiert. Er wußte, daß es für viele Jungen und Mädchen nichts Wichtigeres gab, und daß es das vor allem für Max und sicher auch für seinen Vater gab; bei seiner Oma war er sich allerdings weniger sicher, und an seine Mutter wollte er in diesem Zusammenhang nicht denken, ihm selbst bedeutete Sexualität ebenso wenig wie Sport – bis jetzt jedenfalls. Er hielt das für etwas, das für Leute gemacht war, die sich fortpflanzen wollten. Er hatte genug an sich selbst.
    Am Nachmittag fuhren sie von Padua aus an der Brenta entlang, die von einer unwirklichen, lieblichen Vegetation gesäumt wurde. Nicht weit von ihrer Mündung hielten sie zum Abschluß ihres Ausflugs an der Villa Foscari, die den Beinamen La Malcontenta trug. Da er von kunsthistorischen Sehenswürdigkeiten inzwischen genug hatte, und auch, um der Frau zu entgehen, warf er nur einen raschen Blick in das Innere und setzte sich dann unter einer Trauerweide am Ufer ins Gras.
    Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie zu ihm herüberkäme. Plötzlich jedoch setzte sie sich im Schneidersitz ihm genau gegenüber, und die Art und Weise, wie sie das tat, erinnerte ihn an einen Hampelmann, den er einmal gehabt hatte: zog man an der Schnur, flogen Arme und Beine in die Höhe.
    Sie saß so dicht bei ihm, daß er sie riechen konnte: es war ein Duft wie von Herbstlaub und vielleicht nicht unbedingt aus einer Parfümflasche. Um den Hals und an den Handgelenken hingen mindestens zwanzig Ketten und Armreifen.
    »Sprichst du Englisch?« fragte sie lachend auf englisch, jedoch mit einer Art deutschem Akzent. Er richtete sich auf und nickte, und sie legte ihre Hände mit den langen, schlanken Fingern und rotlackierten Nägeln nicht mehr als einen Zentimeter von seinem Geschlecht entfernt auf seinen Oberschenkel, beugte sich vor und streichelte ihm dann über den Hinterkopf. »Weißt du eigentlich, wie gut dir diese weiße Locke steht?«
    Ehe er sie von sich wegschieben konnte, was er vielleicht gar nicht gewagt hätte, waren ihre Hände verschwunden. Dann streckte sie ihm ihre rechte entgegen.
    »Marlene«, sagte sie. »Marlene Kirchlechner.«
    »Quinten Quist.«
    Er gab ihr die Hand und wollte sie wieder zurückziehen, aber sie hielt sie fest.
    »Deine Hand ist angespannt«, sagte sie und sah ihn an.
    »Als ob du meine nicht wirklich berühren wolltest. Entspann dich.«
    Im selben Augenblick wußte er, daß sie recht hatte. Er ließ seine Muskeln locker und spürte die warme Innenseite ihrer Hand in der seinen, was zu seinem Schrecken nicht nur ein warmes Gefühl in seiner Hand, sondern im ganzen Körper mit sich brachte. Offenbar spürte sie genau, was geschah, denn als sie seine Hand losließ, beugte sie den Kopf vor und hatte denselben Blick wie vorhin in der Villa Rotonda. Innerhalb von einer Minute war es ihr gelungen, ihn vollkommen zu verwirren. Er wollte ihre Hand wieder nehmen, und zugleich wollte er es auch nicht, aber mit den Berührungen war es jetzt plötzlich vorbei.
    »Wie alt bist du, Quinten?«
    »In zwei Wochen werde ich siebzehn.«
    Sie stockte kurz und ließ ihn nicht aus den Augen.
    »Bist du mit deinen Eltern hier?«
    »Nein«, sagte er kurz. »Ich bin allein.«
    »Ich auch«, sagte Marlene Kirchlechner. Sie wohne in Wien und

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