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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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den dreizehnten in der Gewalt zu haben, denn die elf laufen genauso willig auch hinter ihm her. Wenn es gutgeht, erhängt sich der dreizehnte am Ende, so wie Judas, oder wird gehängt, wie in Nürnberg, oder kommt vor ein Exekutionskommando, wie in Scheveningen; aber immer erst nach getaner Arbeit, wenn es eigentlich schon keine Rolle mehr spielt. Mir schwirrt wieder mal der Kopf, Edgar. Wenn sich der Griff des ersten milde löst, steckt der dreizehnte schon seine Grenzen ab und probiert, wie weit er gehen kann, schlitzt hier den Sitz in einem Zug auf oder demoliert dort eine Telefonzelle. Das, was sich jetzt abspielt, Edgar, passiert in einer Welt ohne Gott, dafür aber mit einer Goldenen Mauer, die jeden Moment einstürzen kann. Ich habe selbst daran mitgearbeitet. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Und wenn der dreizehnte vielleicht sogar dem Richter vorgeführt wird, ist sofort ein Psychiater als advocatus diaboli zur Stelle, der sein Verhalten ursächlich erklärt.
    Schlimme Jugend, oft geschlagen, geschiedene Eltern. Aber solche Erklärungen können doch nie Rechtfertigungen für ein Verhalten sein! Der Mensch ist keine Maschine, und auch nicht einfach ein Tier wie du – und selbst bei dir bin ich mir da nicht ganz sicher. Aus diesem Grund sollte das Verhalten nicht kausal, sondern final überprüft werden. Darf ich kurz wissenschaftlich werden? Aus der kausalen Position ist das moralische Urteil verschwunden, und der kümmerliche Rest wird juristisch als mildernde Umstände präsentiert, mit Strafminderung als Folge. Aber das ist nichts anderes als die Verneinung menschlicher Freiheit! Auf diese Weise wird der Mensch entmenschlicht, man nimmt ihm seine Verantwortung. Ich erinnere mich dunkel, daß im Urteil von Max’ Vater auch so etwas stand; vielleicht ist er in seiner Jugend auch einmal von seiner Mutter verraten worden. Straferlaß ist so gesehen eine unmenschliche Strafe.
    Und außerdem eine unzulässige Beleidigung derjenigen, die eine ebenso schlimme Jugend hatten, aber keine Verbrechen begehen. Diese Menschen müßten, nach dem gleichen Prinzip, vom Staat belohnt werden, was ihn allerdings teuer zu stehen käme. Und solange das nicht eingeführt wird, fordert die Gerechtigkeit, die Psychiater aus dem Gerichtssaal hinauszuprügeln wie weiland die Geldwechsler aus dem Tempel. Nein, was der Richter braucht, ist die eiserne Hand eines Götz von Berlichingen. Solange niemand das allersüßeste Fleisch des Messias hat, kann man das Böse nur brutal mit dem Bösen bekämpfen. Im Dienste des Guten muß das Böse zugleich zwangsläufig und tragischerweise zugelassen werden, es ist der Preis, der gezahlt werden muß. Niemand kann unschuldig regieren, das sagte Saint-Just, bevor er unter die Guillotine kam.«
    Die Blicke der Passanten auf diesen unverständlich und gurrend vor sich hin redenden Sonderling ließen ihn kalt.
    Er gehörte nicht mehr zu den Menschen, und wenn er über sie nachdachte, dann wie ein Ornithologe über Vögel. Als er einen belebten Platz voller Straßencafés überquerte, hüpfte Edgar auf die Erde und mischte sich unter die Tauben, die der schwarzen Gestalt erschrocken Platz machten.
    »Gute Idee, Edgar. Laß uns hier in der Sonne in aller Ruhe mal dreizehn Menschen inspizieren.«
    Er setzte sich auf die Stufen eines Springbrunnens und stellte seine Tragetasche ab. Aus dem Becken ragte ein gemeißelter Sockel mit wasserspeienden Delphinen, auf dem ein Obelisk von etwa sechs Metern Höhe stand; er war vollständig mit Hieroglyphen bedeckt und wurde von einem goldfarbenen Stern gekrönt, dem ein Bronzekreuz entsproß.
    »Dreizehn Männer wohlgemerkt, als Gentleman lasse ich die Frauen aus dem Spiel. Du weißt, was Weininger gesagt hat: Das Weib ist die Schuld des Mannes. Hitler war ein Mann, aber er ist in freien Wahlen ausschließlich dank der verliebten deutschen Frauen an die Macht gekommen; aber laß uns das am besten mit den demokratischen und feministischen Mänteln der Liebe zudecken. Zum Beispiel der –«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf einen gepflegten älteren Herrn mit einer Zeitung unterm Arm, der sein Jackett locker über der Schulter hängen hatte. »Anständiger Mann, Prokurist bei einer mittelgroßen Bank, Referendar in irgendeinem Ministerium. Zuverlässig, ein bißchen eitel, auf jeden Fall nicht der erste und nicht der dreizehnte. Und der da auch nicht«, sagte er und folgte mit den Blicken einem Mann in einem Overall, der im Gehen irgendein Eisenteil

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