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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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studierte. »Der tut seine Arbeit. Ist viel zu beschäftigt, um zu morden oder Wunder zu vollbringen. Aber die zwei da, die sich unterhalten – der eine gefällt mir absolut nicht. Sein Lachen ist irgendwie nicht echt.
    Und das Gesicht eine Idee zu blaß und zu glatt.«
    Der Mann war Ende Zwanzig, und als er bemerkte, daß er beobachtet wurde, verschwand sein Lachen so urplötzlich, als wäre es abgeschaltet worden, und Onno traf ein kalter, drohender Blick. Onno wandte die Augen ab.
    »Verdammt noch mal, wenn du mich fragst, ist das ein hundertprozentiger dreizehnter. Schau lieber nicht hin, der Mann ist gefährlich. Ich glaube, der kann seine Emotionen steuern wie andere ihr Auto. Laß uns lieber mal schauen, wen wir da haben«, sagte er und sah zu einem Jungen, der den Platz überquerte, stehenblieb und mit offenem Mund das gegenüberliegende Gebäude betrachtete.
    Im gleichen Augenblick stockte Onno der Atem. Er begann zu zittern und stand langsam auf.

    Das Pantheon! Dort stand es wirklich! Es schien Quinten, als sei es nicht wahr, was er sah. Der römische Tempel sämtlicher Götter, zwanzig Jahrhunderte alt: Grau und kahl, von unten bis oben von Barbaren, Kaisern und Päpsten angekratzt, stand es dort wie etwas, das nicht nur aus einer anderen Zeit stammte, sondern auch aus einem anderen Raum – wie ein beunruhigendes Bild, das plötzlich aus einem Traum der letzten Nacht auftauchte.
    M • AGRIPPA • L • F • COS • TERTIVM • FECIT
    Die Quadrata! Da waren sie, diese wunderbaren, beseelten Buchstaben, auf dem Architrav oberhalb der acht Säulen unter den beiden dreieckigen Tympana, die Palladio so eingehend studiert hatte: angeblich erbaut von Marcus Agrippa, Sohn des Lucius, während seines dritten Konsulats, tatsächlich aber von Kaiser Hadrian, wie ihn Herr Themaat gelehrt hatte. Wie es wohl Herrn Spier ging, in seinem Pontrhydfendigaid? Links und rechts von Portal und Kuppelbau waren ebenerdig metertiefe Rinnen gegraben, wodurch der Tempel aus der Erde zu steigen schien wie die Findlinge in Drenthe. Auf der Vorderseite, hörte er Herrn Themaat erzählen, lagen die Eingangsstufen noch unter dem jetzigen Straßenniveau. Langsam ging er an einer Reihe wartender Pferdewagen vorbei in den Schatten des hohen, rechteckigen Portikus, der seinerseits ebenfalls von acht Säulen getragen wurde – zusammen waren es also genauso viele Säulen, wie er Jahre zählte. Eine Besuchergruppe wartete auf ihren Führer. Als zwei Männer eine der mehr als sieben Meter hohen Bronzetüren einen Spaltbreit öffneten, brauchten sie dafür ihre ganze Kraft.
    Der kolossale leere Raum nahm Quinten den Atem. Wie im undurchdringlichen Inneren eines Kristalls hing schattenloses Licht über dem hellen Marmorboden, an Säulen und in Altarnischen, in denen die stolzen römischen Götter durch demütige christliche Heilige ersetzt worden waren. Anstelle eines Schlußsteins wurde die Spitze der Kuppel von nichts als blauer Luft abgeschlossen, von einem runden Loch mit einem Durchmesser von fast zehn Metern, durch das schräg das Sonnenlicht fiel, wie ein schiefer Obelisk im Raum stand und auf einem beschädigten Fresko ein blendendes Ei produzierte. Die Kuppel mit dem Loch erinnerte ihn an eine Iris mit Pupille: Der Tempel war ein Auge, und er befand sich genau in seiner Mitte. Von außen gesehen mußte das Loch schwarz sein. Ein Observatorium. Wie hatte Herr Themaat noch gesagt? Das Pantheon sei zwar nicht das Gebäude, denn das gebe es nicht, aber immerhin ein »guter Zweiter«, das man auch als Abbildung der Welt sehen könne. Vielleicht hatte er damit nicht einfach nur die Natur gemeint, die Erde, den Mond, Sonne und Sterne, sondern alle Welten, die der Zahlen oder der geometrischen Figuren zum Beispiel, oder die der Musik. Das Gebäude war übrigens auch eine Uhr – eine Sonnenuhr, die die Zeit nicht mit dem Schatten, sondern mit Licht maß. Er stellte sich in die Mitte des Raumes, genau unter die Öffnung, und holte seinen kleinen Kompaß hervor. Der Eingang lag genau nach Norden.
    Er sah in die Richtung, auf die die Nadel zeigte und so seinen Blick auf eine heruntergekommene Gestalt lenkte, die ihn von den Bronzetüren aus anstarrte. Es war ein großer und schwerer Mann, mit dunkler Brille; auf der Schulter saß eine schwarze Krähe, nein, der Vogel sah eher aus wie ein Rabe.
    Ein ungepflegter grauer Bart verbarg auch den Rest des Gesichts, das lange Haar war hinten zu einem Zopf zusammengebunden, und das schmuddelige,

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