Die Entdeckung des Himmels
halboffene Hemd hing ihm so aus der Hose, daß der Nabel sichtbar war; die nackten Füße steckten in verschlissenen Turnschuhen. Quinten erschrak.
Nicht schon wieder! In Venedig die Wienerin, in Florenz dieser Schweinigel, und jetzt ein Penner – es wurde immer schlimmer. Verärgert wollte er sich abwenden, aber in diesem Moment flog der Vogel von der Schulter des Mannes auf, beschrieb flatternd einen Kreis, setzte sich kurz auf die Leiste, über der die Kuppel auf dem Rondell ruhte, und verschwand schließlich krächzend durch die blaue Öffnung.
Jeder im Pantheon sah ihm nach, ein Japaner machte sofort ein Foto, und Onno wußte im selben Augenblick, daß er nicht wiederkommen würde. Er hatte nicht vorgehabt, Quinten anzusprechen, sondern wollte ihn nur kurz sehen, und als er den Vogel zurückrufen wollte, fiel ihm ein, daß Quinten ja seine Stimme wiedererkennen würde, also schwieg er.
Jetzt hatte er Edgar nicht einmal Lebewohl gesagt – und plötzlich fühlte er sich wieder so mutterseelenallein, daß er es nicht mehr aushielt.
Als Quinten den Penner zitternd und auf einen Stock gestützt direkt auf sich zukommen sah, wäre er am liebsten in einem großen Bogen um ihn herum- und hinausgerannt, aber er beschloß, ihm in aller Deutlichkeit zu sagen, er solle ihn gefälligst in Ruhe lassen – vorausgesetzt, er sprach Französisch, Deutsch oder Englisch –, und erst dann wollte er den Tempel verlassen. Als der Penner vor ihm stand, nahm er seine Sonnenbrille ab.
Quinten spürte, wie er sich in ein Standbild seiner selbst verwandelte. Seine Atmung stockte, Herz, Hirn und Blut standen still, für einen Augenblick, als er Onnos Augen begegnete, die er so gut kannte und aus denen ihn zugleich ein ganz anderer als sein Vater anzusehen schien, wurde er zu Stein. Dann fielen sie sich um den Hals und blieben einige Sekunden in regloser Umarmung stehen, bis Onno sich suchend umsah.
»Ich muß mich kurz setzen.«
Hand in Hand gingen sie zu einer Holzbank, die einige Meter vom Sarkophag mit den Gebeinen Raffaels entfernt stand, und betrachteten sich sprachlos. Einerseits hatte Quinten das Gefühl, daß das alles nicht wahr sein konnte, andererseits jedoch war es selbstverständlich, daß er ihn gefunden hatte, ohne ihn eigentlich gesucht zu haben. Wie heruntergekommen er aussah! Geldmangel konnte es nicht sein, trotzdem schien es, als wäre er völlig abgebrannt. Onkel Karel hatte recht gehabt: Der Tod von Tante Helga hatte einen Aussteiger aus ihm gemacht. War es eigentlich richtig, was jetzt geschah?
Auch Onno war völlig durcheinander. Sein ganzes Leben war durch eine Laune wieder vollkommen ungewiß geworden. Indem er sich Quinten zu erkennen gegeben hatte, war etwas Unwiderrufliches geschehen: ausgeschlossen, sich nachher wieder für immer von ihm zu verabschieden, und ebenso ausgeschlossen, sein früheres Leben einfach wiederaufzunehmen. Zugleich verspürte er etwas wie Erleichterung darüber, daß nun alles plötzlich anders war als in den letzten vier Jahren. Als er die Niederlande verlassen hatte, war Quinten zwölf gewesen; jetzt saß dort fast ein Mann. Zum ersten Mal schämte er sich. Er senkte den Blick und wußte nicht, was er sagen sollte.
Quinten bemerkte es und fragte ihn:
»Soll ich wieder gehen?«
Onno schüttelte den Kopf.
»Es ist, wie es ist«, sagte er leise. »Quinten – wie geht es dir?
Du siehst gut aus. Du bist zwei Köpfe gewachsen.«
»Kann schon sein.«
»Seit wann bist du in Rom?«
»Seit gestern nachmittag.«
»Bist du mit deiner Klasse hier? Ich war auch zum ersten Mal hier, als ich in die dreizehnte ging.«
»Ich bin in der neunten sitzengeblieben und müßte eigentlich in der zwölften sein. Aber ich gehe nicht mehr zur Schule.«
Onno, der so viel mehr aufgegeben hatte, begriff, daß er sich jetzt keinen Kommentar erlauben durfte: Weil er von alldem nichts hatte wissen wollen, hatte er sein Recht zu sprechen eingebüßt. Außerdem war Quintens Stimme anzuhören, daß er keinen Widerspruch duldete. Einen Moment lang überlegte Onno, ob er sich nach Ada erkundigen sollte, aber vielleicht lebte sie nicht mehr.
»Ich kann es noch immer nicht glauben, Quinten.«
»Vielleicht stimmt es ja auch gar nicht.«
Auf Onnos Gesicht erschien ein Lächeln.
»Vielleicht träumen wir ja. Beide den gleichen Traum.«
Zögernd sah er ihn an. Er mußte sich nach Ada erkundigen.
»Wie geht es Mama?«
»Noch immer gleich, soweit ich weiß. Ich habe sie auch schon lange nicht mehr
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