Die Entdeckung des Himmels
Namen ausgerechnet er in diesen Keller gefallen sei, sagte der alte Schuft: Alles eine Frage des Talents. Er hatte recht. Ich habe kein Talent. Am nächsten Tag passierte es dann, in meinem Schlafzimmer.«
»In deinem Schlafzimmer? Du hast doch gerade gesagt, daß es mitten auf der Straße passiert ist.«
»Thalamus bedeutet: Schlafzimmer, Bett, Ehebett.«
Quinten betrachtete das blendende Ei: es hatte das Fresko verlassen, hatte sich leicht gesenkt und war nach rechts zu einem Altar mit einer terrakottafarbenen Verkündigung gewandert. Trotz der vielen Touristen war es immer noch fast totenstill, als würde das Stimmengewirr wie Rauch durch die Lichtöffnung abgesaugt. Quinten seufzte tief. Seinem Vater blieb wenig erspart, ihm mußte viel verziehen werden. Ging es jedem so? War es das, was das Leben ausmachte? Wenn alles schließlich auf nichts hinauslief, was hatte man dann eigentlich davon? Stand ihm selbst das gleiche bevor? Der Gedanke kam ihm lächerlich vor. Ihm doch nicht! Er wußte zwar nicht, was er machen wollte, aber wenn er einmal einen Entschluß gefaßt haben würde, dann brächte er die Sache auch zu einem guten Ende, und nichts und niemand würde ihn davon abhalten, das war so sicher wie das Amen in der Kirche!
»Hast du keine Angst, daß es noch einmal passiert?«
»Ein Schlaganfall?« Onno zuckte mit den Schultern. »Dann hat es eben sein sollen. Ich beschäftige mich nicht so sehr mit meinem Körper, ich habe immer das Gefühl gehabt, daß er jemand anders ist. Eine Art Haustier.« Er blickte kurz hinauf zu der Lichtscheibe, durch die Edgar verschwunden war.
»Und was machst du jetzt den ganzen Tag?«
»Nichts. Schlafen. Notizen machen. Ein bißchen nachdenken, aber alles, was ich denke, ist gleich schrecklich.« Er sah ihn an. »Mich gibt es nicht mehr, Quinten. Irgendwann einmal habe ich eine Geschichte gelesen über eine Frau ohne Schatten, aber ich bin ein Schatten ohne Mann.«
So war es. Quinten konnte sich kaum vorstellen, daß da derselbe Mann saß, der früher auf die gleiche Frage den Zeigefinger wie ein Prophet über den Kopf gehoben und gerufen hätte: »Ich widme mich dem Geist! Dem Ruf zum Abgrund!«
Er wollte ihn nach dem Raben fragen, der vorhin durch die blaue Pupille davongeflogen war, aber im selben Augenblick wollte auch Onno etwas sagen. Quinten hielt inne und wußte, was jetzt kam.
»Ist Max auch in Rom?«
Quinten antwortete nicht, wich seinem Blick aber nicht aus.
»Warum sagst du nichts?«
Mit Bestürzung sah Quinten, daß sein Vater Max’ Tod auch ohne ein Wort begriff.
»Wann?« fragte er schließlich.
»Vor einigen Monaten.«
»Wie?«
»Von einem Meteoriten getroffen.«
Schweigend starrte Onno in den flüsternden Raum. War es vielleicht diese Nachricht, oder die Möglichkeit dieser Nachricht, vor der er vor vier Jahren geflüchtet war, da er das nicht auch noch ertragen hätte? Doch jetzt versank es in ihm wie spurlos, vielleicht weil er Quinten anstelle von Max wiederbekommen hatte! Nach einer langen Minute holte er tief Luftund sagte:
»Auch er also.«
»Wie ›auch er also‹?«
»Mangel an Talent.«
Als Quinten an diesem Abend in der Jugendherberge lag und nicht einschlafen konnte, sah er eine Zeichnung aus einem Buch vor sich, das er von Max einmal zum Geburtstag bekommen hatte: im einen Augenblick war sie der Umriß einer Vase, im anderen zwei Gesichter im Profil, die einander ansahen, Raum und Materie wechselten sich ab, Materie wurde Raum, Raum wurde Materie. Als er endlich schlief, war das Gesicht seines Vaters verschwunden, sein eigenes ebenfalls, nur das, was zwischen ihnen war, war noch da: eine Vase, sie war mit flüssiger Luft gefüllt, mit blauem Wasser in der Nähe des absoluten Nullpunkts.
54
Die Steine Roms
Am nächsten Morgen ging er zu der Adresse, die Onno ihm gegeben hatte. Die Via Pellegrino war eine schmale, kurvenreiche Straße, die in den Campo de’ Fiori mündete, einen großen Platz voller Marktstände. An einer Ecke, direkt vor einem Café, lag ein Haufen Müll; um den Platz orange- und rot-gestrichene Fassaden, Geschäfte mit Gebrauchtmöbeln, Haushaltswarenläden mit viel Plastikkram, eine Werkstatt für Klaviere, ein kleiner Gemischtwarenhändler. Gegenüber einem Uhrengeschäft ein mit Spiegeln in Goldrahmen behängter Durchgang, der zwischen zwei antiken, verwitterten Säulen, deren größter Teil noch im Boden zu stecken schien, zu einem stillen Innenhof führte, in dem rundherum Pflanzenkübel, Motorroller
Weitere Kostenlose Bücher