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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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und Motorräder standen. Unter Girlanden trocknender Wäsche war ein Zimmermann bei der Arbeit, und aus den geöffneten Fensterläden waren Stimmen und Musik zu hören. Mit gespannter Aufmerksamkeit nahm er alles in sich auf. Das also war der Ort in der Welt, den er all die Jahre über gesucht hatte und der hier immer gewesen war. Auf einmal kam es ihm unbegreiflich vor, nicht eher gewußt zu haben, daß er einfach nur hierher hätte kommen müssen.
    Über die Außentreppe, die ihm sein Vater beschrieben hatte, kam er in einen Flur, wo es heftig zog und der mit dem Lärm spielender Kinder erfüllt war, ab und zu unterbrochen durch »Paolo!« oder »Giorgio!« schreiende Mütter. Im oberen Stock stand die Tür zu Onnos Zimmer halb offen. Zögernd blieb Quinten auf der Schwelle stehen.
    »Papa?«
    »Entrez!«
    Onno stand vornübergebeugt und mit nacktem Oberkörper am Waschbecken und putzte sich die Zähne. Seine langen Haare hingen wirr herunter, der Bart war zerzaust. Jetzt war noch deutlicher sichtbar, wie schwerleibig er geworden war.
    »Guten Morgen«, sagte er mit weißem Schaum auf den Lippen in einen kleinen Rasierspiegel. »Mach dir’s bequem, aber das sagt sich so einfach.«
    Die Unordnung wunderte Quinten nicht. Das Bett fungierte auch als Kleiderschrank, aus allen möglichen Kartons quoll undefinierbares Zeug, und das Chaos um einen Gaskocher in der Zimmerecke rief kaum die Vorstellung einer Küche hervor. Nirgends ein Telefon oder Radio, und schon gar kein Fernseher. Er warf einen Blick aus dem Dachfenster vor dem Schreibtisch. Ein Meer rostbrauner Dächer, Antennen und Kirchtürme, die sich hell gegen den tiefb lauen Himmel abzeichneten. In der Ferne konnte er gerade noch den riesigen Engel auf der Spitze des Castel Sant’Angelo auf der anderen Seite des Tiber ausmachen. Die Fensterbank war mit einer dicken Schicht Vogelmist bedeckt.
    »Diese Unordnung hier überall. Soll ich mal aufräumen?«
    »Du weißt ja gar nicht, wo du anfangen sollst. Aber wenn du willst. Schmeiß einfach alles weg.«
    Über Max wurde nicht mehr gesprochen. Während Onno von Edgar erzählte, räumte Quinten den Tisch auf, füllte zwei Müllsäcke mit Abfall und sammelte die schmutzigen Kleider ein, die überall herumlagen.
    »Warum hast du ihn Edgar genannt?«
    »Nach Edgar Allan Poe natürlich. Der hat ein berühmtes Gedicht über einen Raben geschrieben. The Raven. « Er richtete sich auf, schaute in den runden Spiegel, der an einem Nagel an der Wand hing, und rezitierte: »Other friends have flown before – on the morrow he will leave me as may Hopes have flown before. Then the bird said, Nevermore. Aber trotzdem hat er mich verlassen, und ich habe irgendwie das Gefühl, daß er nicht wiederkommen wird. Vielleicht hat ihn das Pantheon erschreckt. Aber ich habe mich schon damit abgefunden, denn jetzt habe ich ja dich dafür wiederbekommen.« Und für Max, dachte Quinten, aber das behielt er für sich.
    Beide spürten sie die Verlegenheit des anderen, die die neue Situation mit sich brachte, aber keiner von ihnen schaffte es, darauf zu sprechen zu kommen. Sie brachten die Wäsche einige Häuser weiter zur Wäscherei und setzten sich in ein Straßencafé. In der Mitte des belebten, rechteckigen Platzes stand ein düsteres Standbild eines Mönches mit aufgesetzter Kapuze.
    »Wer ist das?« fragte Quinten.
    »Giordano Bruno.«
    Quinten nickte.
    »Der das All unendlich gemacht hat.«
    »Hat Max dir das erzählt?«
    »Nein, Herr Verloren van Themaat.«
    »Und das hast du dir gemerkt.«
    »Ja. Ich vergesse fast nie etwas.«
    Onno sah eine Weile in Gedanken auf das Standbild.
    »Dort, an dieser Stelle, haben sie ihn als Ketzer verbrannt.«
    Mit dem Stock zeigte er auf die Menge zwischen den Ständen. »Weißt du, was das alles hier ist? Es ist alles auch, was es nicht ist.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Die Welt ist jetzt für immer auch die maxlose Welt.«
    Quinten wußte, daß Max seinem Vater mehr bedeutet hatte als ihm selbst, und er wußte auch, daß er, Quinten, eine solche Freundschaft nie mit jemandem gehabt hatte oder haben würde. Aus den Augenwinkeln beobachtete er seinen Vater.
    Sein Kopf war leicht nach vorne geneigt, die Nähe des bärtigen Gesichts mit der Sonnenbrille hatte zugleich etwas Ungreifbares, als ob es unerreichbar weit weg sei.
    Der Ober aus dem Café begrüßte Onno wie einen alten Bekannten und nannte ihn »Signore Enrico«. Während er die Tischplatte abwischte, warf er mit leicht hochgezogenen

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