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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Vergangenheit.
    Der langgestreckte Streifen voller weißer und rotbrauner Ruinen, Stücke und Brocken, Unkraut, geborstener Säulen, Steinquader, Löcher und Mauerreste, alles durch die flache Hand der Zeit zerstört, war für Onno wie ein trauriges Bild seines Lebens, bei Quinten hingegen rief dieses Areal eine merkwürdige Erregung hervor, die Gleichaltrige vielleicht nur bei der Demonstrationsshow einer tief über den Erdboden dahinjagenden Flugzeugstaffel verspürten. Es erinnerte ihn erneut an die Burg beziehungsweise an das, was nach dem Aufwachen von ihr noch übrig war. Er näherte sich irgend etwas, irgendwo wartete etwas auf ihn. Aber wo? Und was war es? Am Rand des Geländes, das aussah wie ein offenes Verlies, dröhnte der Verkehr über die Via dei Fori Imperiali, auf der anderen Seite erhob sich der düstere, bedrohliche Hügel des Palatin, wo die Kaiserpaläste gestanden hatten; die Sonne drehte sich um die Säule des Phokas, und Stunde um Stunde irrten sie durch den kostbaren Schutt. Nach der überschäumenden Helligkeit Venedigs, das wie ein Korken auf dem Wasser trieb, und der massiven Verschlossenheit von Florenz waren hier die Dinge so schwer, daß sie metertief in den Boden versunken waren. Während Quinten Onno zuhörte und den Zeigefinger als Lesezeichen in den Führer des Instituto Poligrafico dello Stato gelegt hatte, ordneten sich vor seinen Augen rüttelnd und sich verschiebend die Steine. Comitium.
    Regia. Ein seltsam proportioniertes Backsteingebäude, das beim Triumphbogen des Septimus Severus häßlich im Weg stand und danach schrie, weggeräumt zu werden, entpuppte sich nach einem kurzen Blick in den Führer als die Curia, der römische Senat, dessen ursprünglich bronzene Türen sich jetzt in der Lateranbasilika befanden.
    »Was ist der Lateran?« fragte Quinten.
    »Im Mittelalter wohnten dort die Päpste, später sind sie in den Vatikan umgezogen.«
    »Das müssen wir uns anschauen.«
    »Natürlich«, sagte Onno. »Du mußt nur sagen, was du sehen willst. Es ist nicht weit von hier, dort drüben, hinter dem Kolosseum. Der ursprüngliche Palast existiert übrigens nicht mehr.«
    Mit jedem Schritt über die großen Steinquader der Via Sacra, der Heiligen Straße, lag das Forum in einem anderen Jahrhundert. Jede zusammengefallene Säule, erzählte Onno, jedes Stück Mauerwerk, jedes bißchen Marmor, das sich im trockenen Gras von der Sonne bescheinen ließ, sei durch die Jahrhunderte hindurch in Tausenden von Veröffentlichungen unaufh örlich hin und her geschoben worden, bis es seinen endgültigen Platz in der Geschichte zugewiesen bekommen habe: Beginn der Zeitrechnung, drittes Jahrhundert nach, sechstes Jahrhundert vor, aus der Renaissance, aus dem Mittelalter. Eine monsterhafte Ruine, die Quinten in die Zeit des Zweiten Weltkrieges datiert hatte, entpuppte sich als Basilika des Maxentius. Vor drei stehengebliebenen Säulen des Tempels von Vespasian, auf denen noch ein Stück des Architravs zu sehen war, streckte Onno die Hand aus und sagte, dies sei das vollendete Bildzeichen der Antike. Schließlich ein kleiner, runder, senkrecht entzweigeschnittener und zur Hälfte von der Zeit fortgeblasener Vestatempel. Der Titusbogen, der die Via Sacra gegenüber dem Kolosseum an ihrem höchsten Punkt überspannte.
    Onno zeigte Quinten ein Fries im Innern des Bogens, die Rückkehr von Titus’ triumphierenden Truppen aus Jerusalem nach der Eroberung der Stadt im Jahre 70. Trotz der Beschädigungen war die meisterhafte Darstellung der Soldaten, die über die Straße, auf der sie jetzt standen, ins Forum einmarschierten, voller Bewegung und als ob Musik und Jubel immer noch zu hören wären; über den Köpfen schwebten die Trophäen aus dem zerstörten jüdischen Tempel: die silbernen Trompeten, der goldene Tisch der Schaubrote, der goldene siebenarmige Leuchter.
    »Was sind ›Schaubrote‹?«
    »Opfergaben«, sagte Onno. »Zwölf runde, ungesäuerte Brote, in zwei Stapeln zu je sechs. An jedem Sabbat wurden sie durch neue ersetzt, und die alten wurden von den Priestern gegessen.
    Im Christentum findet sich das auf andere Weise wieder. Christus sagte, er sei das Brot.«
    »Wirklich? Sagte er, daß er aus Brot sei? Dann mußte er wohl auch gegessen werden?«
    »So ist es. Das ist der Höhepunkt der katholischen Messe.«
    »Aber dann sind die Katholiken doch Kannibalen!«
    »Das sagte dein Großvater auch immer, aber Kannibalen sind Menschenfresser, während die Katholiken sich als Gottfresser

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