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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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konntest? Beim Grab von diesem Pferd, auf Groot Rechteren.«
    »Deep Thought Sunstar«, sagte Quinten gedankenverloren. Er konnte sich nicht daran erinnern, aber die plötzliche Erwähnung des Schlosses hier an diesem Ort und aus dem Mund seines Vaters gab ihm ein Gefühl wie ein Glas warme Milch an einem kalten Wintertag. »Manchmal«, sagte er, als sie zum Seiteneingang der Kathedrale gingen, »kommt es mir so vor, als sei die Welt zwar sehr kompliziert, als sei jedoch dahinter etwas verborgen, das ganz einfach und zugleich unbegreiflich ist.«
    »Zum Beispiel?«
    »Ich weiß nicht. Eine Kugel. Oder ein Punkt.«
    Onno sah ihn von der Seite an.
    »Redest du jetzt über Geschichten wie die von Moses oder über die Wirklichkeit?«
    »Ist das wirklich ein so großer Unterschied?«
    Vielleicht, dachte Onno, war eine Geschichte nun gerade das absolute Gegenteil der Wirklichkeit, aber er wollte Quinten damit nicht unnötig verwirren.
    »Und diese Kugel, oder dieser Punkt, geben sie der Wirklichkeit einen Sinn?«
    »Sinn? Was meinst du damit?«
    Onno schwieg. Der Gedanke, daß was auch immer der Welt einen Sinn geben könnte, war ihm fremd. Sie war da, aber es war sinnlos, daß sie da war. Sie hätte genausogut auch nicht dasein können. Bei Quintens Kugel mußte er an die glänzende Kugel denken, die in Los Alamos von den Händen unzähliger junger Soldaten poliert worden war, die abends mit ihren Mädchen zum Tanzen gingen. Wie verhielt sich das schwelende Chaos in Hiroshima zu diesem ursprünglichen platonischen Körper? Das eine konnte durch das andere weder verstanden noch erklärt werden, während es dennoch daraus hervorging. Wie konnte ein Mensch von einer befruchteten Eizelle her verstanden werden? Die Wirklichkeit war kein Syllogismus à la »Sokrates ist ein Mensch – Alle Menschen sind sterblich – Also ist Sokrates sterblich«, sondern eher wie: »Helga ist ein Mensch – Alle Telefonzellen sind zerstört – Also muß Helga sterben«. Oder: »Hitler ist ein Mensch – Alle Juden sind Tiere – Also müssen alle Juden sterben«. Diese unbegreifliche Logik, die alles beherrschte, Gutes wie Böses und Wedernoch, sollte Quinten besser selbst entdecken. Onno hielt es für angebracht, die Reinheit dieses Jungen nicht zu trüben. Wer nicht einmal wußte, was mit ›Sinn‹ gemeint war, sollte sich diesen Zustand möglichst lange bewahren.
    In der vollen Erzbasilika – »Mutter und Oberhaupt aller Kirchen in Stadt und Welt« – wurde gerade von einem violett gewandeten Kardinal eine Messe gelesen. Auf Zehenspitzen schlichen sie nach vorne. Das kühle, barocke Innere enttäuschte Quinten; von dem mittelalterlichen Gebäude aus der Zeit Kaiser Konstantins war ebenso wenig übrig wie von dem alten Palast der Päpste. Nur der geheimnisvoll wirkende Hochaltar mit seiner gotischen Überdachung gefiel ihm. In einem zierlichen Kasten auf Säulen standen hinter Gittern Bilder von Petrus und Paulus; dahinter befanden sich dem Reiseführer zufolge ihre Häupter.
    »Waren die beiden eigentlich Freunde?« flüsterte er.
    »Nicht daß ich wüßte. Wenn man sich den Dingen so widmet, wie sie es taten, gibt es, glaube ich, keinen Platz für Freundschaft. Das ist in der Religion wahrscheinlich genauso wie in der Politik.«
    Quinten richtete seinen Blick wieder auf den geschlossenen, bemalten Teil des Ziboriums, in dem sich die Reliquien befanden. Ihm war, als sähe er die beiden Schädel bereits tatsächlich dort liegen.
    »Ich würde zu gerne einmal hineinschauen.«
    »Das wird dir wohl nicht gelingen, mein Freund.«
    Blitzlicht blendete sie: Jemand machte ein Foto von dem auffälligen Paar, dem Landstreicher und dem schönen Jüngling. Mit Panik in den Augen wandte sich Onno ab. Die Fotografin war ein japanisches Mädchen mit einem schwarzen Lackhut auf dem Kopf; sie ging weiter und tat, als ob es nichts Besonderes wäre, sich einfach jemandes Bild anzueignen. Kurz darauf hielt der Küster sie an, schüttelte den Kopf und deutete auf den Apparat.
    »Warum erschreckt dich das so, Papa?«
    Onno machte eine hilflose Geste.
    »Entschuldige, ein dummer Reflex. Jede holländische Illustrierte würde für dieses Foto gut und gern tausend Gulden bezahlen. Man reagiert wohl so, wenn man sich jahrelang vor allen versteckt hat.«
    »Aber das ist doch jetzt eigentlich gar nicht mehr so?«
    »Stimmt schon, aber was ich jetzt mache, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau. Wir werden sehen.« Er wollte nicht darüber nachdenken; am

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