Die Entdeckung des Himmels
auf. »Papa?«
»Ja?«
»Jetzt weiß ich alles.«
»Das ist viel.«
»Die Treppe ist einer mittelalterlichen Legende zufolge im vierten Jahrhundert von Kaiserin Helena aus Jerusalem in den Lateran gebracht worden. Das war die Mutter Konstantins.«
»Ich weiß. Er war mit einer gewissen Fausta verheiratet – der fromme Christenkaiser hat sie nachher noch ermorden lassen.« Mit einem schiefen Lächeln sah er Quinten an.
»Als die Päpste im vierzehnten Jahrhundert aus der Verbannung von Avignon nach Rom zurückkehrten, war der Palast zu einem großen Teil ausgebrannt, deshalb nahmen sie den Vatikan als Hauptquartier. Im sechzehnten Jahrhundert ließ Sixtus V den Lateran abreißen, bis auf die päpstliche Kapelle da oben. Der Architekt«, sagte er und las in der Broschüre nach, »Domenico Fontana, brachte die Treppe hierher. Aus irgendeinem Grund ist das nachts geschehen, bei Fackellicht.«
»Er scheute wohl das Tageslicht.«
»Die Stufen wurden von oben nach unten angebracht, da die Arbeiter sie sonst hätten betreten müssen.«
»Erscheint mir einleuchtend.«
Mit einer ausholenden Geste sah Quinten sich um.
»Das mußt du dir mal vorstellen: alles weg, dieser enorme Palast, in dem die Päpste tausend Jahre lang gewohnt haben – nur noch die Kapelle mit der Treppe hier ist übrig. Das Gebäude wurde wie eine Hülle darum herumgebaut.«
»Was ist daran so merkwürdig? In ganz Rom wurde es so gemacht.«
»Aber was ist mit den kriechenden Menschen? Das ist doch nicht einfach nur eine Art Museum, wie fast alles andere in Rom? Hier ist doch immer etwas im Gange. Als wäre die Treppe eine Bühne, auf der ein Mysterienspiel aufgeführt werden soll. Das vergitterte Fenster unter dem Gemälde mit der Kreuzigung, auf das sie sich zubewegen, sieht aus wie das Fenster einer Gefängniszelle. Komm, laß uns das einmal anschauen.«
»Sag mal, du erwartest ja wohl hoffentlich nicht, daß ich diese Treppe auf den Knien hinaufrutschen werde?«
»Hier, auf der Seite, sind zwei normale Treppen. Auf der anderen übrigens auch.«
Während sie in einem marmornen Treppenhaus nach oben gingen, freute sich Onno über Quintens Begeisterung. Welcher Sechzehnjährige interessierte sich heutzutage noch für etwas anderes als für High-Tech, Spaß und Geld? Er erinnerte ihn an die Zeit, als er selber in diesem Alter gewesen war und sich wie sein Sohn in Studien vergraben hatte, über die sich seine Freunde nur wunderten. Nein, er war ganz genauso gewesen, doch Jungen wie Quinten und er waren immer die Ausnahme. Bei denen es dann fünfundzwanzig Jahre dauerte, bis ihnen klar wurde, daß nicht jeder so war, und diese Erkenntnis äußerte sich dann als große Enttäuschung – während umgekehrt die nicht Außergewöhnlichen meinten, die Außergewöhnlichen seien sich ständig ihrer Außergewöhnlichkeit bewußt und gäben das auch zu erkennen. Das Gegenteil war der Fall. Sie verachteten die anderen nicht, sie überschätzten sie. Es waren die nicht Außergewöhnlichen, die sich ständig der Außergewöhnlichkeit der Außergewöhnlichen bewußt waren. Es war wie beim Mißverständnis zwischen Hund und Katze. Wenn ein Hund Angst hat, zieht er den Schwanz ein, ist er aber fröhlich, wedelt er einem den Duft seines Hinterteils entgegen; eine Katze hingegen wedelt gerade dann, wenn sie Angst hat, da ihr Kot stinkt. Der schwanzwedelnde Hund springt auf die schwanzwedelnde Katze zu, um mit ihr zu spielen, aber die Katze denkt, sie werde angegriffen, und zieht dem Hund einen blutigen Kratzer über die Nase – die Sprachverwirrung ist Ursache ihrer unversöhnlichen Feindschaft.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Onno, wie Quinten ungeduldig die Treppen hinaufging. Sein Haar wippte wie schwarze Seide.
Während Onno unentschlossen in dem Raum stehenblieb, in den die fünf Treppen mündeten, ging Quinten gleich weiter zur mittleren, der heiligen. Die Gläubigen, die jetzt aus der Tiefe zu ihm emporstiegen, hielten den Kopf murmelnd gesenkt und achteten nicht auf ihn. Er stand mit dem Rücken zu ihnen und starrte durch die mehr als fingerdicken, in einer marmornen Umrahmung eingefaßten Gitter.
Das Sancta Sanctorum. Der Kontrast war noch krasser als der zwischen Platz und Vorportal: In der dämmrigen Kapelle herrschte die Stille eines Spiegels, und das erste, was ihm einfiel, war das Gesicht seiner Mutter in ihrem Bett. Sein Herz begann heftig zu schlagen. Der kleine Raum war hoch und vollkommen quadratisch, etwa sieben auf sieben Meter, und
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