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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ein einziger Kraftprotz und noch viel kolossaler, als er ihn sich vorgestellt hatte, der Gesichtsausdruck viel wütender, die geäderte Hand harsch in den Bart gekrallt.
    Vor einem Ständer mit einem Telefon standen ein Junge und ein Mädchen fast Ohr an Ohr, hielten gespannt den Hörer und betrachteten die zornige Gestalt.
    »Der ist aber verdammt böse«, sagte Quinten leise.
    Onno mußte lachen.
    »Erzürnt heißt das, und dazu hatte er auch allen Grund.«
    »Wieso?«
    Leicht beunruhigt sah Onno ihn an.
    »Hast du eigentlich eine Ahnung von dem, was in der Bibel steht?«
    »Nur ein bißchen. Vom Alten Testament fast keine.«
    »Macht nichts. Dafür hast du ja jetzt deinen Vater, der kennt sie auswendig, zumindest war das früher einmal so, dafür haben Tausende von Bibelstunden mit meinem Vater, in der Schule und im Konfirmandenunterricht schon gesorgt. Offenbar weißt du jedenfalls, daß Moses das jüdische Volk aus dem ägyptischen Exil geführt hat. Danach zogen die Flüchtlinge auf der Suche nach dem Gelobten Land vierzig Jahre lang quer durch die Wüste. Gleich zu Beginn dieser Zeit gab Jahwe ihm auf dem Berg Horeb vierzig Tage lang allerlei Instruktionen, wie zum Beispiel die über den siebenarmigen Leuchter, den du gestern auf dem Titusbogen gesehen hast. Zum Schluß bekam er –« Plötzlich erhellte ein Blitz die Kirche, und gleich darauf war ein lauter, krachender Donner zu hören, der grollend über die Stadt hinwegrollte wie eine eiserne Kugel, die mindestens so groß war wie die Kuppel des Pantheon. Verblüfft
    sah Onno Quinten an:
    »Das ist aber sehr passend.«
    Quinten schien nicht zu verstehen.
    »Was bekam er zum Schluß?«
    »Zum Schluß bekam er die Zehn Gebote mit, die Jahwe mit seinem göttlichen Finger auf zwei Steintafeln geschrieben hatte. Hör mal, von den Zehn Geboten hast du doch wohl hoffentlich schon gehört? Vom Dekalog?«
    »Natürlich. Du sollst nicht töten.«
    »Das ist schon mal eine falsche, christliche Übersetzung.
    ›Du sollst nicht morden‹, steht da, Lo Tirtsach. Töten darf man, unter bestimmten Umständen. Moses jedenfalls war gut einen Monat ausgeblieben, und die Juden dachten, es sei ihm etwas zugestoßen, und beteten inzwischen statt Jahwe das Goldene Kalb an. Das ist genau der Augenblick, in dem Michelangelo Moses abgebildet hat. Moses wurde so wütend, daß er die Tafeln auf den Boden warf.«
    Quinten betrachtete die Tafeln unter Moses’ Arm, die er immer für irgendwelche Mappen gehalten hatte, Mappen wie die, in denen Theo Kern seine Zeichnungen aufbewahrte.
    »Und dann?«
    »Dann mußte er wieder hinauf, mit zwei neuen Tafeln, die er diesmal selbst bezahlen mußte. Wenn ich mich recht entsinne, ist in der Bibel nicht eindeutig klar, ob Gott die Zehn Gebote wieder selbst schrieb oder diesmal nur diktierte. Laß uns letzteres annehmen. Wenn ich Schriftsteller wäre, hätte ich auch keine Lust, zweimal das gleiche zu schreiben.«
    »Und die komischen Hörner auf seinem Kopf? Was bedeuten die?« – »Auch eine falsche Übersetzung.«
    »Auch eine falsche Übersetzung?«
    »Als er zum zweiten Mal vom Berg herunterkam, strahlte sein Gesicht, weil er mit Gott gesprochen hatte, so sehr, daß er einen Schleier tragen mußte. Aber das hebräische Wort für ›strahlend‹ kann man auch mit ›gehörnt‹ übersetzen, nur ergibt das natürlich keinen Sinn.«
    Quinten nickte nachdenklich.
    »Das heißt also, daß wir diese Hörner eigentlich weghacken müßten.«
    Entsetzt sah Onno ihn an.
    »Du hast einen Blick in den Augen, als seist du glatt dazu fähig.«
    »Warum nicht! Es ist doch nur ein Übersetzungsfehler?«
    »Allerdings einer aus Marmor.«
    Quinten hatte das Gefühl, als ob sich allmählich etwas zusammenfügte, aber was? Während er den marmornen Wüterich noch einmal genau studierte, spürte er den Blick seines Vaters auf sich ruhen.
    »Was schaust du mich so an?«
    »Glaubst du eigentlich an Gott, Quinten?«
    »Darüber habe ich nie nachgedacht. Und du?«
    »Seit ich darüber nachgedacht habe, nicht mehr.«
    »Wie alt warst du, als du anfingst, darüber nachzudenken?«
    »Ungefähr so alt wie du jetzt.« Vor Onnos Augen erschien eine Szene aus seinem Elternhaus, die fünfunddreißig Jahre zurücklag, im vorderen Zimmer mit der großen Bibel auf dem Stehpult. Nachdem er die Sonntagskleider angezogen hatte, hatte er seinen Vater feierlich darüber in Kenntnis gesetzt, daß er zwischen dem Satz »Ich glaube nicht, daß Gott existiert« und dem Satz »Ich

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