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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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machte auf überwältigende Art spürbar, was alles nicht mehr da war: die hundertsechzig Päpste, die hier zehn Jahrhunderte lang Tag für Tag gebetet hatten. Es war, als sei die Zeit daraus verschwunden. In der Mitte des mit Marmor ausgelegten Fußbodens gegenüber dem Altar stand ein Betstuhl. Der Altar befand sich vor dem ausgebauten Teil der Rückwand, die von zwei Porphyrsäulen getragen wurde. Auf dem Gesims über den vergoldeten Kapiteln war über die ganze Breite geschrieben:
    NON • EST • IN • TOTO • SANCTIOR • ORBE • LOCVS
    Er winkte seinen Vater herbei.
    »Wie würdest du das übersetzen?« flüsterte er.
    »Quinten«, sagte Onno streng, »du hast fünf Jahre Gymnasium hinter dir!«
    »Es ist nicht«, versuchte sich Quinten, »überhaupt … heiligerer … Weltort?«
    »Mitreißende Prosa. Man könnte natürlich auch sagen: Nirgendwo auf der Welt gibt es einen heiligeren Ort. Nur weil die Päpste hier gesessen haben? Scheint mir leicht übertrieben.«
    Quinten machte ihn auf die große Ikone aufmerksam, die auf dem Altar stand: ein Triptychon mit geöffneten Seitenpaneelen. Die Darstellung war im Dämmerlicht kaum zu erkennen, aber er erzählte, was er gerade nachgelesen hatte: das Bildnis des allerheiligsten Erlösers im Mittelteil, acheiro-poèton , sei nicht von Menschenhand, sondern von einem Engel gemalt worden. Nur der auf Seide gemalte Kopf werde vom vergoldeten, kunstvoll bearbeiteten Silber ausgespart, außerdem sei es nicht der ursprüngliche, denn der befinde sich unterhalb der Seide. Der Mittelteil werde von einem halbrunden, von zwei vergoldeten Engeln getragenen Baldachin überwölbt.
    »Ja, Quinten«, sagte Onno mit einem Lachen, »wir sind nicht mehr in den Niederlanden.« Er legte die Hand auf das Gitter. »Für meinen Geschmack sieht es hier übrigens eher aus wie in einer Folterkammer. Sieh mal, zwischen den gedrechselten Säulen über dem Altar sind noch mal zwei vergitterte Fenster. Von dort wurden die heiligen Väter wahrscheinlich beobachtet, wenn sie beteten. Und der untere Teil des Altars ist genauso vergittert. Schau dir nur die Schlösser an!«
    Quinten sah die Vorhängeschlösser, die ihm bisher noch nicht aufgefallen waren. Das obere war ein riesiges Eisenschloß von der Größe eines Brotlaibes, und im selben Augenblick, in dem er es sah, bekam er es mit der Angst zu tun. Wo war er bloß? Träumte er? War er in seinem Traum?
    »Was ist denn los mit dir?« fragte Onno erschrocken. »Du bist plötzlich leichenblaß.«
    »Ich weiß nicht –«, brachte Quinten nur heraus.
    War der verschwundene Palast des Lateran seine Burg? War er angekommen? Diese Treppe, vier mal sieben Stufen, die Kapelle, seine Mutter –. Verwirrt wandte er sich ab und begegnete dem Blick einer alten Frau, die die achtundzwanzigste Stufe gerade genommen hatte, stöhnend aufstand, sich bekreuzigte, ihm kurz zulächelte und zur anderen Treppe weiterging, während sie sich den Oberschenkel rieb.
    »Laß uns hier weggehen«, sagte Onno. »Es hat was Ungesundes hier. Du mußt etwas essen.«
    Quinten schüttelte den Kopf.
    »Das ist es nicht.« Es war ausgeschlossen, seinem Vater zu erzählen, was in ihm vorging. »Vielleicht ist es nicht die Kapelle, die hinter Gittern sitzt, vielleicht sind wir es, die hinter Gittern sitzen.« Mit großen Augen sah er sich um. »Ich bin mir ganz sicher, daß hier etwas sehr Merkwürdiges geschieht, ich kann nicht sagen, warum, aber ich werde das schon noch herausfinden.«
    Onno musterte Quinten einige Sekunden lang sehr genau.
    Plötzlich lag ein harter Glanz in Quintens Augen. Onno nickte, stützte sich auf seinen Stock und sah sich ebenfalls um, als ob auch er etwas suchte. Sein Schwindelgefühl war heute heftiger als sonst, vielleicht lag es an den Treppen.
    »Ich weiß nicht, auf was du hinauswillst, aber mir ist inzwischen auch etwas Merkwürdiges aufgefallen.«
    »Was denn?«
    »Diese Kapelle heißt doch Sancta Sanctorum , nicht wahr?«
    Und als Quinten nickte: »Eben, und genau das verstehe ich eigentlich nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Das bedeutet ›Das Allerheiligste‹.«
    »Ja, klar.«
    »Aber dieser Ausdruck kommt so konkret in der christlichen Religion gar nicht vor.«
    »Wo denn sonst?«
    »Nur in der jüdischen.«

56
Schriftgelehrt
    »Und wie kommt er dort vor?«
    »Laß uns hier nicht stehenbleiben«, sagte Onno, »nicht vor allen Leuten.«
    Sie gingen zurück. Links vom Sancta Sanctorum, wo sich eine Renaissancekapelle mit zwei kleinen Altären

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