Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
liebsten würde er seine Tage immer so wie jetzt mit Quinten in der Ewigen Stadt verbringen. »Wohin gehen wir jetzt?«
    »Auf die andere Seite.«
    Die riesigen Bronzetüren der römischen Curia, die jetzt das Hauptportal bildeten, waren geschlossen; durch eine Seitentür gingen sie hinaus. Quinten drehte sich kurz um und schaute nach oben. Auf dem Dachsims der Basilika zeichnete sich im Gegenlicht eine Reihe riesiger Gestalten ab, die aufgeregt gestikulierten, als sei etwas ganz Außergewöhnliches passiert.
    Sie überquerten den belebten, zugigen Platz, und vor dem Eingang des Gebäudes mit dem Sancta Sanctorum blieb Quinten stehen und warf einen Blick durch die offenen Türen. Genau vor ihm, auf dem hohen Portal gegenüber, lag die Heilige Treppe.

    Ihn schauderte. Mit dem Rücken zum Straßenlärm sah er eine Welt, die so still war wie in einem Aquarium. Auf den nur leicht ansteigenden Stufen, die kaum drei Meter breit waren, knieten mit geneigten Häuptern und im Gebet versunken zehn oder zwölf Männer und Frauen, Rücken und Schuhsohlen ihm zugewandt. Sie hatten etwas Statuenhaftes, wie Menschen auf einer Rolltreppe, aber die Treppe bewegte sich nicht, sondern stand still, nur ab und zu arbeitete sich jemand mühsam zur nächsten Stufe hinauf. Die gewölbte Decke war mit Fresken biblischer Motive ausgemalt, und der Architekt hatte das Treppenhaus perspektivisch so konstruiert, daß es wie ein horizontaler langer Gang ins Jenseits wirkte, der seinen Fluchtpunkt im Nabel des Gekreuzigten hatte. Die Treppe war mit Holz verkleidet, aber durch die Ritzen schimmerte der Marmor, über den der Angeklagte der Schrift nach gegangen war.
    »Jetzt bist du es, der den Eindruck macht, als habe ihn das Heilige des Ortes berührt«, sagte Onno, als sie hineingingen. »Erzähl mir nicht, daß du tatsächlich glaubst, die Treppe stamme aus Pilatus’ Burg Antonia.«
    Die Erwähnung des Wortes ›Burg‹ versetzte Quinten in diesem Augenblick einen leichten Schock.
    »So wie die Leute dort? Überhaupt nicht. Oder, nein, ich frage mich gar nicht, ob das alles echt ist. Aber ich weiß nicht –«, sagte er und sah sich um, »ich habe das Gefühl, hier wird eine Geschichte erzählt.«
    Bei einem uralten Pater an einem Andenkenstand kaufte er sich eine Broschüre über das Gebäude. Während er das Geld hinlegte, klopfte ein zweiter alter Pater laut mit einer Münze an die Scheibe eines Schalters und bedeutete einem Mann, daß es verboten sei, das Heiligtum in kurzer Hose zu betreten.
    Er hatte auf der Brust seiner schwarzen Kutte das Emblem eines weißen Herzens, mit der Inschrift JESU XPI PASSIO; das Herz wurde von einem Kreuz gekrönt.
    »Du meinst«, fragte Onno mit gedämpfter Stimme, während sie sich langsam der Treppe näherten und in angemessenem Abstand stehenblieben, »die Geschichte von ›Was ist Wahrheit?‹, ›Hände waschen in Unschuld‹, ›Ecce homo‹ und all das?«
    Quinten kannte diese Geschichte nur vage. Er holte Luft, um etwas zu sagen, stockte jedoch und schüttelte den Kopf, es war ihm selbst nicht klar, was er wollte.
    »Ich weiß es nicht, laß nur. Auf jeden Fall eine Geschichte, von der auch die Leute da vorne ein Teil sind«, sagte er, »die da kniend zum Ypsilon hochkriechen.«
    »Ypsilon?«
    »Zum gekreuzigten Christus auf dem Fresko im Fluchtpunkt. Der hat doch die Form eines Ypsilon.«
    »Du hast recht«, sagte Onno. »Der Buchstabe des Pythagoras.« Anerkennend sah er Quinten an. »Das hast du gut beobachtet. Weißt du, daß sich das Gabelkreuz auch auf dem Bischofsgewand befindet? Wer weiß, vielleicht hast du eine Entdeckung gemacht.«
    Quinten hatte ihm nicht zugehört.
    »Ich habe das Gefühl, daß dieses Gebäude irgendeine Geschichte erzählt.«
    »Du sprichst in Rätseln. Aber das ist hier wahrscheinlich angebracht.«
    »Laß mich das hier eben kurz lesen.«
    Bei einem Pilaster setzte sich Quinten auf den Marmorboden und schlug die Broschüre auf, wurde aber sofort von einer gebrochenen Stimme ermahnt. Ein Pater, der ebenso alt und ebenso schwarz gewandet war wie die anderen beiden, saß mitten in der Vorhalle auf einem einfachen Holzstuhl und bewegte seinen weißen Zeigefinger vorwurfsvoll hin und her.
    Während Onno sich über die Hast wunderte, die plötzlich in Quinten gefahren zu sein schien, betrachtete er die Malereien im Portal. Währenddessen las Quinten den kurzen Text, der von achtundzwanzig zu den Stufen gehörenden Gebeten abgeschlossen wurde.
    Nach einigen Minuten sah er

Weitere Kostenlose Bücher