Die Entdeckung des Himmels
glaube, daß Gott nicht existiert«
lange geschwankt habe, sich als Gläubiger aber zum zweiten Satz bekenne. Die blitzenden Augen seines Vaters, seine weinende Mutter – seit er es als Ungläubiger mit dem zweiten Satz hielt, wollte er nicht mehr an diese Vergangenheit denken.
»Und was steht jetzt auf deinem Programm?« fragte er schließlich.
Der Donner von vorhin war offenbar zugleich Anfang und Ende des Gewitters gewesen, die Sonne kam wieder durch, und von Zeit zu Zeit zog ein heller Lichtstrahl durch die Kirche.
»Wir wollten doch zum Lateran?«
Einen Moment lang sah Onno ihn unsicher an.
»Was suchst du denn, mein Junge?«
Quinten zuckte die Schultern.
»Nichts. Ich bin einfach nur Tourist.«
55
Der Ort
Als Quinten zehn Minuten später auf der Piazza San Giovanni in Laterano aus dem Taxi stieg, traute er seinen Augen nicht.
Neben der Kathedrale, beim achteckigen Baptisterium des Konstantin, schaute er mit wehenden Haaren über den weiten Platz. Da war sie! Piranesis gerahmte Radierung, die bei Herrn Themaat gegen das Bücherregal gelehnt auf dem Boden gestanden hatte! Er hätte es wissen müssen, aber er hatte nie und nimmer erwartet, das alles hier tatsächlich und real vorzufinden: den turmhohen Obelisken, der aussah wie eine Rakete kurz vor dem Start zum Mond, hundert Meter weiter den zweistöckigen Renaissancebau, in dem sich das Sancta Sanctorum befand, die Hauskapelle der Päpste des Mittelalters, und die Heilige Treppe aus dem Prätorium von Pontius Pilatus in Jerusalem. Die Sandfläche bei Piranesi hatte dem Asphalt Platz gemacht, über den nun der Verkehr raste, aber mit seinen grauen Wolkenfetzen sah jetzt sogar der Himmel aus wie auf dem Bild.
Onno sah zum Obelisken hinauf. Auch er war noch nie hiergewesen; den Kopf im Nacken, strich er sich nachdenklich über den Bart und betrachtete die Hieroglyphen.
»Kannst du sie lesen?«
»Ich merke gerade, daß ich ein bißchen eingerostet bin. Es sieht aus wie ein zeremonielles Traktat des Pharao Thutmoses III. über das ewige Leben.«
»Also auch wieder ein Moses.«
»Aber um einige Jahrhunderte älter als der jüdische. Das«, sagte er und zeigte nach oben, »ist ziemlich sicher das älteste Kunstmonument auf europäischem Boden. Wir sprechen jetzt von einer Zeit vor dreieinhalb bis viertausend Jahren.«
Er erklärte Quinten, und hin und wieder schnellte sein Zeigefinger in die Höhe, Moses sei ein ägyptischer Name und bedeute ›Kind‹, ›Sohn‹. Da der Pharao alle neugeborenen jüdischen Jungen ermorden ließ, hatte Moses’ Mutter ihr Baby in einem Körbchen im Schilf am Nil ausgesetzt; das Körbchen war aus Papyrusstengeln, weil Krokodile Papyrus verabscheuten. Moses’ Schwester beobachtete, wie er von der Tochter des Pharao gefunden wurde, und sagte der Prinzessin, sie wisse eine gute Amme für das Findelkind, nämlich ihre Mutter. Die Prinzessin nannte das Kind Kind , und ohne daß es sonst noch jemand wußte, wurde Moses von seiner eigenen Mutter aufgezogen. Mehr als tausend Jahre später, erzählte Onno, sozusagen als Spiegelbild dieser Begebenheit, flüchteten Maria und Joseph mit ihrem Sohn nun gerade nach Ägypten, um Herodes’ Kindermord in Bethlehem zu entgehen, aber anders als Moses’ Pflegemutter, die tatsächlich seine leibliche Mutter war, war Jesu gesetzlicher Vater nicht sein leiblicher.
»In solchen Kreisen sind die Familienverhältnisse oft ein bißchen kompliziert.«
»Die Verkündigung«, nickte Quinten.
»Du sagst es. Thutmoses bedeutet also ›Kind des Gottes Thot‹. Das war der Erfinder der Schrift.«
»Du machst ein Gesicht, als würdest du es wirklich glauben.«
Onno zuckte die Schultern.
»Auch ein ehemaliger Kryptograph braucht einen Gott, oder nicht? Was heißt hier im übrigen ›wirklich glauben‹?
Kennst du die Geschichte von Niels Bohr, dem großen Physiker? Das hat Max mir einmal erzählt. Irgendein anderer großer Physiker, Wolfgang Pauli oder so, besuchte Bohr einmal in dessen Landhaus und sah, daß er ein Hufeisen über der Tür hängen hatte. Professor! sagte er. Sie? Ein Hufeisen? Glauben Sie denn daran? Worauf Bohr antwortete: Natürlich nicht.
Aber wissen Sie, Herr Pauli, es soll einem auch helfen, wenn man nicht daran glaubt.« Er lachte, und Quinten sah ihm an, daß er auch deshalb lachte, weil er an die Art und Weise denken mußte, wie Max ihm die Anekdote erzählt hatte. »Wußtest du übrigens, mein Kind, daß das Wort ›Obelisk‹ das erste Wort war, das du sprechen
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